Das Ziel, die Zahl der Verkehrstoten deutlich zu senken, liegt nach wie vor in weiter Ferne. Das zeigen die jüngsten Statistiken aus der Schweiz, Österreich und Deutschland. Berichtet wird darüber meist sehr distanziert und formelhaft. Jetzt zeigt ein neuer Leitfaden, wie Sprache dazu beitragen könnte, das Bewusstsein für mehr Verkehrssicherheit zu erhöhen.
Bern, Potsdam, Wien, 19. März 2025
250 Menschen haben im vergangenen Jahr im Strassenverkehr «ihr Leben verloren» – so teilte es das Bundesamt für Strassen ASTRA vergangene Woche mit. Ähnlich distanziert berichteten die Medien über die höchste Zahl von Verkehrstoten seit 2015. Wenn ein Mensch im Verkehr stirbt, dann beschreibt man das üblicherweise so: Er erlag seinen Verletzungen, sie zog sich tödliche Verletzungen zu.
Eine kritische Auseinandersetzung mit Formulierungen dieser Art liefert der heute veröffentlichte Leitfaden «Unfallsprache – Sprachunfall». Fachleute aus Linguistik und Sozialwissenschaften des Centre for Development and Environment der Universität Bern, des Instituts für Sprachwissenschaft der Universität Wien und des Forschungsinstituts für Nachhaltigkeit (RIFS) am Helmholtz-Zentrum für Geoforschung in Potsdam, sowie Expert:innen von Polizei, Mobilitätsplanung und Medien haben zahlreiche Unfallberichte aus Deutschland, Österreich und der Schweiz analysiert. Ihr Befund: Verkehrsunfälle werden meist als schicksalhafte Ereignisse beschrieben. Und fast immer erscheinen sie als isolierte Einzelereignisse.
«Die Art, wie wir über Unfälle sprechen, prägt unser Verständnis von Verantwortung und Prävention», sagt Sprachwissenschaftler Hugo Caviola, der das Projekt geleitet hat. «Polizei und Medien berichten aber oft nur knapp und formelhaft über Verkehrsunfälle, die dadurch als unvermeidlich wahrgenommen werden.»
Der Leitfaden richtet sich insbesondere an Polizei und Medien. Er soll aber auch dazu beitragen, die Verantwortung aller für die Verkehrssicherheit sprachlich sichtbar zu machen. Dazu gibt er fünf Empfehlungen:
Unfälle nicht als Schicksal, sondern als menschengemacht darstellen.
Beispiel: «A und B kollidierten» statt «Es kam zum Unfall.»
Alle beteiligten Personen und deren Handlungen benennen.
«Fussgängerin von Velofahrer angefahren» statt «Fussgängerin angefahren».
Die Perspektiven der Beteiligten klar kennzeichnen.
Beispiel: «Der Autofahrer erklärte, er habe die Fussgängerin übersehen.» statt «Der Autofahrer übersah die Fussgängerin.»
Den Ermittlungsstand transparent machen.
Beispiel: «Wie schnell die Autofahrerin unterwegs war, ist nicht bekannt.» statt «Die Hintergründe des Unfalls sind Gegenstand der Ermittlungen.»
Einzelereignisse in einen grösseren Zusammenhang stellen.
Beispiel: «Das ist die vierte Kollision auf dieser Kreuzung in diesem Jahr.»
«Eine präzisere Sprache kann helfen, Verkehrsunfälle als Teil eines veränderbaren Systems zu begreifen – und nicht als schicksalhafte Einzelfälle», so Hugo Caviola. «Denn bei so vielen Verkehrstoten müssen wir Klartext reden.»
Der Leitfaden liegt in drei Versionen vor: als ausführliches PDF, als Kurzfassung sowie als Übersichtsblatt – sowohl digital als auch gedruckt.
Der Leitfaden ist sofort unter https://sprachkompass.ch/themen/verkehr/sprachunfall-unfallsprache zum Download verfügbar. Gedruckte Exemplare können kostenlos per E-Mail an [email protected] bestellt werden.
Hugo Caviola
E-Mail: [email protected]
Tel.: +41 61 921 21 71
Martin Reisigl
E-Mail: [email protected]
Tel. +43 1 4277 41712
Dirk von Schneidemesser
E-Mail: [email protected]
Tel.: +49 331 6264 22430
Vortrag von Hugo Caviola am Kaderseminar bei BirdLife Zürich: Schreiben über Biodiversität mit Herz und Verstand. Linguistische Überlegungen zur Wissenschaftskommunikation.
Vortrag von Andrea Sedlaczek im Rahmen des Workshops: «Rückblicke und Ausblicke auf die Angewandte Linguistik in Österreich – eine gemeinsame Bestandsaufnahme von verbal und Emerging Linguists anlässlich des 30. Geburtstags von verbal» auf der 48. Österreichischen Linguistiktagung am 19. Dezember 2024 in Innsbruck, Österreich.
Hugo Caviola im Interview in der Sendung «Quarks» des Westdeutschen Rundfunks (WDR) vom 27. Juni 2023.
Prof. Martin Reisigl hielt den Vortrag am 4. April 2023 an der Universität Warschau.
Verkehrssprache – verkehrte Sprache? Wie der Sprachgebrauch unsere Mobilität mitprägt
Die Tagung stellte Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt Sprachkompass Mobilität (CDE, Universität Bern) vor und reflektierte diese vor dem Hintergrund der Verkehrs- und Nachhaltigkeitsforschung in der Soziologie, Verkehrsforschung und Politikwissenschaften.
Per 1. Januar 2021 wurde aus dem «Amt für Verkehr» des Kantons Zürich das neue «Amt für Mobilität». Ein bedeutender Schritt, denn es geht nicht nur um einen neuen Titel, sondern auch um neue Schwerpunktthemen, Aufgaben und Strukturen. Der neue Name lädt auch dazu ein, über die Bedeutung der Wörter Mobilität und Verkehr nachzudenken. Sind sie wirklich so synonym, wie sie im Alltagsgebrauch teilweise verwendet werden? Was schwingt – bewusst oder unbewusst – mit, wenn wir uns für den einen oder anderen Begriff entscheiden?
In der von der Volkswirtschaftsdirektion des Kantons Zürich herausgegebenen Broschüre finden Sie Ergebnisse aus dem Sprachkompass Mobilität kurz und praxisnah zusammengefasst.
Broschüre Sprachkompass Mobilität und Verkehr, Kanton ZH (PDF, 2 MB)
Unser Artikel «Grenzenlose Mobilität und fliessender Verkehr. Eine kritische Sprachreflexion» wurde vom Editorial Board in die Shortlist der besten GAIA-Artikel des Jahres 2020 aufgenommen. Dies die Kommentare dazu:
Der Beitrag zeigt in eindrucksvoller Weise wie wir durch die Sprache unsere Vorstellungen von der Welt bauen und in welcher Weise die Auswahl der Begriffe Assoziationen über Analogien erzeugen, die unser Denken so begrenzen, dass alternative Welten kaum vorstellbar werden. Dass der Begriff «Mobilität» der Vorstellung eines «suffizienten Verkehrs» so klar im Wege steht, hat mich überrascht. Der Beitrag hat mich sehr angeregt und ich versuche seitdem meinen eigenen Sprachgebrauch kritisch zu prüfen und nach Alternativen zu den gängigen Begriffen zu suchen. Insofern hat der Beitrag zumindest mich zu einem veränderten Sprachhandeln motiviert.
In a very comprehensible, convincing and inspiring way, Caviola and Sedlaczek show how discourse linguistics can contribute to unveil interpretative frameworks (frames) associated with the current usage of the concepts «mobility» and «traffic» and how these promote non-sufficient thinking and action, not without providing alternative metaphorical frames and suggestions towards a language usage that better supports sufficiency.
Mit dem Sprachwissenschaftler Martin Reisigl sprach das VCÖ-Magazin darüber, warum wir sprachlich Gas geben und nicht in die Pedale treten, warum Autowerbung vor der Gefährlichkeit ihres Produktes warnen müsste und warum Bewegungen wie Fridays for Future den öffentliche Sprachgebrauch verändern können.
VCÖ-Magazin 1-2020: «Sprache verrät uns viel über Normen» (PDF, 295 KB)Langversion des Interviews auf vcoe.at
Wie prägt Sprache unsere Wahrnehmung von Landschaft und Umwelt? Wie beeinflusst sie unser Denken und Handeln? Dies untersuchten Wissenschaftler in einem Forschungsprojekt am CDE. Die Resultate liegen nun in Buchform vor. Und ein Anschlussprojekt ist bereits unterwegs. Das Thema: suffizienter Lebensstil. Projektleiter Hugo Caviola über Sprache – und was sie mit nachhaltiger Entwicklung zu tun hat.
Wie die Sprache das Denken und Handeln der Menschen prägt. Ein Talk zur Sprachwahl in Bezug auf die Raumplanung.
Unsere Wahrnehmung der Natur wird auch von sprachlichen Begriffen geprägt. Hans Weiss, langjähriger Geschäftsführer der Stiftung Landschaftsschutz, plädiert deshalb für präzise Wortwahl.