Wenn das noch was werden soll mit der Mobilitätswende, müssen wir Gas geben. Die Mobilitätswende ist eine große und komplexe Baustelle, da geraten wir schnell ins Schleudern. Obwohl uns manchmal scheint, die Situation sei festgefahren, ist es wichtig, dass wir – als Gesellschaft – die Kurve kriegen.
Wegen der Verkehrsgewalt, wegen des Klimas, wegen der öffentlichen Gesundheit und vieler weiterer Gründe können wir uns keinen Leerlauf leisten. Wir müssen auf die Überholspur und dürfen nicht länger auf die Bremse treten. Aber vielleicht müssten wir erstmal einen Gang runterschalten, Energie tanken? Um dann so richtig mit quietschenden Reifen durchzustarten?
Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass in jedem Satz des vorigen Absatzes mindestens eine Automobilmetapher vorkommt. Damit wollen wir zeigen, wie tief das Auto in unserem Sprachgebrauch verankert ist. Und was tief in unserer Sprache verankert ist, ist ebenfalls tief in unseren Köpfen, unserem Denken und Fühlen verwurzelt. Das Auto durchdringt unsere Kultur, unsere Politik und prägt unser Denken und Handeln so sehr, dass wir auch dann vom Auto reden, wenn wir das gar nicht wollen.
Selbst wenn wir uns ein kleines Stückchen von der Dominanz des Autos befreien wollen, orientieren wir uns an der Normalität des Autos. Wir wollen zum Beispiel für die Mobilitätswende Fahrrad-„Autobahnen“ einrichten oder „auto“-freie Stadtteile gestalten. Mit dem Ausdruck „autofrei“ betonen wir, dass etwas an der Straße positiv von der Auto-Norm abweicht, nämlich, dass sie frei von Autos ist. Unsere Orientierungsgröße aber bleibt das Auto.
Die Bemühungen um menschengerechte Städte und Dörfer, um aktive Mobilität und um die Mobilitätswende wird auch durch unsere sprachliche Autoorientierung gelähmt. Sie verfestigt und reproduziert die autogerechte Welt in unterschiedlicher Weise.
Die Vorstellungen, die der Begriff „Straße“ hervorruft, illustrieren dies. Unsere Vorstellungskraft entwirft „Straße“ als einen Ort, an dem Autos fahren oder geparkt werden. Der Duden definiert die Straße als einen „aus Fahrbahn und zwei Gehsteigen bestehender Verkehrsweg für Fahrzeuge (und bes. in Ortschaften) Fußgänger“. Im Duden und in unseren Köpfen ist die Straße offenbar verankert als Autorevier. Menschen ohne Auto kommen im besten Fall an dessen Rand vor.
Dies hat Folgen: Was stellen Sie sich vor, wenn Sie ein Schild mit der Aufschrift „Straße gesperrt“ sehen? Wohl, dass hier keine Autos fahren dürfen. Dass eine „gesperrte“ Straße aber für Fußgänger „offen“ ist, kommt uns nur mit Glück in den Sinn. Denn unser Straßenverständnis – der Frame, der das Wort Straße in unseren Köpfen aufruft – flüstert uns ein, dass offene Straßen für Autofahrende offen und für zu Fuß Gehende „gesperrt“ sind! Wir denken die Straße so stark vom Auto aus, dass wir eine Straße, auf der ein Straßenfest gefeiert oder ein Markt geöffnet wird, als „gesperrt“ ansehen. Dabei wird die Straße nur für eine einzige Sache gesperrt, für den Autoverkehr.
Wir sollten etwas genauer hinschauen, wenn eine Straße als ‚gesperrt‘ bezeichnet wird. Mit ihrer „Öffnung” ist die Straße nämlich weit mehr als hauptsächlich Durchgangs- und Lagerraum für Autos, sie kann auch Lebensraum für Menschen und Pflanzen sein. Vielleicht sind Straßen – vor allem städtische – offener, als wir gewöhnlich denken. Ist der Autoverkehr in unseren Köpfen einmal entthront, tut sich ein breites Spektrum möglicher Nutzungen auf, vom Straßenmarkt über das Straßencafé zum Straßentheater zur Straßenmusik bis hin zu Spielplätzen, Wiesen und Bäumen, eine Verwandlung, die man durchaus nicht als „Sperrung“ sehen muss.
Räume, die nicht von der Autovorherrschaft betroffen sind, bezeichnen wir meist als „Zonen“ oder „Bereiche“. So sprechen wir etwa von Fußgängerzonen oder Begegnungszonen. Auch gibt es verkehrsberuhigte Zonen und Tempo-30-Zonen. Auffällig ist auch hier die Sprache. Als Zonen oder Bereiche bezeichnete Räume bilden meist Inseln, Entschleunigungsoasen, die gegen Widerstand innerhalb der Autowelt eingerichtet wurden. Warum, kann man fragen, gibt es eigentlich keine „Autozonen“? Die Antwort lautet: weil (in unseren Köpfen) die Straßen ohnehin den Autos gehört. Nun könnte man ja sprachlich etwas gegensteuern und damit beginnen, Autobahnen und andere autoverkehrsorientierte Straßen als „Autozonen“ zu bezeichnen. Auf diese Weise würde klar, dass Straßen nicht selbstverständlich den Autos gehören.
Wie ist diese Autoherrschaft entstanden? Der amerikanische Historiker Peter Norton beschreibt in seinem Buch Fighting Traffic[1] Peter D. Norton (2008). Fighting Traffic. The Dawn of the Motor Age in the American City. Cambridge Massachusetts, London, England: The MIT Press., wie die kollektive Wahrnehmung der Straße in den USA sich innerhalb eines Jahrzehnts durch konzertierte Aktionen der Autoindustrie komplett veränderte. Anfang der 1920er Jahre verstand man städtische Straßen als Orte der Begegnung, des Aufenthalts, des Handels und vieles mehr. Wurde ein Mensch von einem Autofahrer verletzt oder getötet, war die Empörung groß und richtete sich gegen den Autofahrer.
Bis zum Ende der 1920er-Jahre aber wurden aus Straßen Räume, in denen der Autoverkehr Vorrang genoss. Fußgänger, auch Kinder, galten nun als selbst schuld, wenn sie verletzt oder getötet wurden. Dies schlug sich nieder in Gesetzestexten, in Gerichtsverfahren – und in unseren Köpfen. Kinder wurden von den Straßen in Wohnzimmer und in Reservate mit dem neuen Namen „Spielplatz“ verbannt. Mit diesem neuen Verständnis der Straße leben wir spätestens seit den 1950er-Jahren. Es lässt sich übrigens linguistisch belegen: In Zeitungstexten kann man nachweisen, dass seit 1945 die Wörter Parkplatz, Fahrbahn und Spielplatz immer häufiger vorkommen, ein Anzeichen, dass das Auto von der Straße Besitz ergriffen hat und die Kinder auf neu geschaffene „Spielplätze“ regelrecht vertrieben wurden.
Wir leben heute mit einem Massaker, das sich aus Einzelfällen summiert: In Deutschland wurden 2022 auf den Straßen 2.776 Menschen getötet, in der Schweiz waren es 241. Leider bleiben diese Zahlen seit über zehn Jahren etwa konstant. Ein Grund dafür liegt unter anderem in der Art, wie die Medien über Verkehrsgewalt berichten. Leider kann man aus den täglichen Unfallmeldungen kaum lernen, dass Unfälle zu verhindern wären, und wie dies geschehen könnte. Sie vermitteln vielmehr den Eindruck, als wären Unfälle ein Schicksal, das man hinnehmen muss.
Ein Grund liegt im Wort „Unfall“ selbst: Mit dem zweiten Wortteil „Fall“ verbinden wir zwei Bedeutungen: 1) eine Abwärtsbewegung (Bsp.: Der Fall des Apfels) sowie 2) einen möglichen Umstand (Bsp.: im günstigsten Fall). Im Kompositum „Unfall“ sind beide Bedeutungen präsent: Erstens ist ein Unfall ein unerwünschter Umstand, der eintritt, zweitens ein solcher, der metaphorisch als Abwärtsbewegung, als Fallen, dargestellt ist. Von fallenden Bewegungen wissen wir, dass in ihnen die Schwerkraft wirkt. Die Schwerkraft ist die Kraft, die das Fallen antreibt und es ‘verantwortet’. Das Fallen ist somit ein Naturgeschehen – das Menschen unter Umständen auslösen – dem sie selbst aber physikalisch ausgeliefert sind.
Dies macht den Un-fall zu einem Ereignis, das jemandem widerfährt. Hinzu kommt etwas Weiteres: Fallen ist ein intransitives Verb, ähnlich wie wohnen, schweben, wachsen, also ein Verb, das keine Objekte an sich bindet. So kann ich zum Beispiel nicht sagen: Ich falle den Ball. Möglich und richtig ist hingegen: Der Ball fällt oder Der Apfel fällt. Dies führt uns zurück zum Naturgeschehen, das den Unfall in die Kategorie des Unabwendbaren rückt. Das Verb fallen im Nomen Unfall macht es nicht leicht, nach Ursachen des „Unfalls“ zu fragen.
Etwas Weiteres kommt hinzu: Das Wort „Unfall“ erscheint statistisch am häufigsten zusammen mit den Verben „sich ereignen“, „passieren“ und "geschehen" (vgl. DWDS). Die Verbindung mit diesen Verben erweckt den Eindruck, wir seien ohnmächtig gegenüber Unfällen. Ein Unfall, der „sich ereignet“, ist ein Vorgang, der sich selbst hervorbringt. Bei einem Unfall, der „geschieht“ oder „passiert“, stellt sich sprachlich eher nicht die Frage nach dem Grund für das Geschehen.
Anders gesagt: Wer Formulierungen wie diese liest, muss sich die handelnden Menschen ebenso wie die kontextualen Ursachen zu den Unfällen hinzudenken. Die Unfälle kommen von außen über die Menschen, Unfallverursachende bleiben unsichtbar. Auch die Formulierung „Es kommt zu einem Unfall“ ist sehr häufig. Sie deutet an, dass ein Kausalzusammenhang zwischen einer Ursache („Es”) und einer Wirkung („Unfall”) vorliegt. Doch das unpersönliche Pronomen „es“ verschleiert, wie dieser Zusammenhang zustande kommt.
Kurz: Ebenso wie bei den obigen Verben werden die Ursachen und Verantwortlichen der Unfälle verdeckt. Man könnte meinen, sie kämen aus dem Nichts und ohne Grund über die Menschen. Nun wissen wir aber, dass hinter Verkehrsunfällen durchaus Gründe und Verantwortlichkeiten stehen. Und dass wir als Gesellschaft diesen gegenüber nicht ohnmächtig sind. Als die Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h auf Landstraßen eingeführt wurde oder als die Promillegrenze gesenkt wurde, sank die Zahl der Opfer von Verkehrsgewalt deutlich. Tausende von Strafbefehlen und Gerichtsurteile benennen Verantwortliche und zeigen Unfallgründe auf. Nur entstehen diese Analysen erst lange nach einer Kollision. Sie fehlen in den Unfallmeldungen, die wir jeden Tag hören und lesen und gelangen selten an die Öffentlichkeit. Die Berichterstattung der Medien zur Verkehrsgewalt braucht einen differenzierteren Sprachgebrauch.
Kann die Berichterstattung ohne das Wort Unfall auskommen? Im englischsprachigen Raum gibt es Empfehlungen, die vom ebenfalls schicksalsträchtigen Wort accident abraten und als Ersatz collision und crash vorschlagen. Kollision und Crash sind im Deutschen Fremd- bzw. Lehnwörter und fokussieren stark auf den Vorgang des Zusammenpralls. Da sie weitgehend frei sind vom Beigeschmack des Schicksalhaften, bieten sie sich von Fall zu Fall als Alternativen an. Der aus dem Englischen "traffic violence" übersetzte Ausdruck "Verkehrsgewalt" kann Übersicht schaffen und das Bewusstsein dafür schärfen, dass das System Verkehr (mit seinen Geschwindigkeiten und Energien) ein Gewaltpotential enthält, das wir allzu oft übersehen.
Ein Beispiel: Als vor Weihnachten 2022 in Zürich ein 6-Jähriger von einem bis heute unbekannten Gefährt zu Tode gefahren wurde, titelten drei Schweizer Medien (Neue Zürcher Zeitung, Blick, TeleZüri) mit der Schlagzeile „Bub stirbt“, als wäre der Junge einfach so gestorben. Eine Schlagzeile wie „Bub getötet“ hätte die ungewollte aber tolerierte Existenz von Verkehrsgewalt sachgerechter benannt als das gewaltverhüllende „Bub stirbt“.
Es gibt aber (leider) weitere sprachliche Gewohnheiten, die Einsichten in die Gründe der Verkehrsgewalt verhindern: Es sind Formulierungen wie diese: „Zwei Radfahrer bei Unfall verletzt“. Passivformulierungen dieser Art rücken die Handlungsinstanz aus dem Blick. Selbst wenn klar ist, dass es sich um eine Kollision mit einem Lastwagen handelt, verhüllt die Passivwendung, wer oder was die zwei Menschen verletzt hat. Direkter und sachgerechter wäre hier eine Aktivformulierung: „Ein Lastwagen verletzte zwei Menschen.“
Geht es noch sachgerechter? Ja! Im obigen Satz handelt ein Gegenstand, der Lastwagen. Doch in der Realität sind es immer Menschen, die etwas mit dem Gefährt tun. So ist es wohl präziser zu sagen: „Ein Lastwagenfahrer verletzte zwei Menschen.“ In Aktivformulierungen sowie in der Benennung der Handelnden (wenn sie bekannt sind) wird deutlicher, worin die Ursache der erlittenen Verkehrsgewalt liegt. Dies ist wichtig, denn erst wenn wir einem Geschehen Ursachen zuschreiben können, sind wir in der Lage, Überlegungen zu vorbeugenden Maßnahmen anzustellen. Bleibt etwas Zufall oder Schicksal, so sind wir gelähmt.
Polizeimeldungen entstehen meist unter Zeitdruck, ebenso die Medienmeldungen, die sich oft an ihnen orientieren. Entscheidend ist, dass uns Unfallmeldungen meist als Einzelereignisse erreichen. Angesichts der hohen Opferzahlen auf den Straßen ist eine Darstellung von Verkehrsgewalt als isoliertes Phänomen fehl am Platz. Denn Verkehrsgewalt hat System. Einzelne Kollisionen sind eingebettet in einem Kontext, in dem sie immer und immer wieder vorkommen. Aus dieser Einsicht folgern wir einen Aufruf an die Polizei und den Journalismus: Wir brauchen vermehrt Berichte, die Statistiken über die Häufigkeit bestimmter Unfälle liefern, Hintergründe, die einen Zusammenhang zwischen Mängeln in der Verkehrsinfrastruktur und dem Vorfall herstellen, auch solche, die einen Zusammenhang mit den Verkehrsregeln festhalten, statt die vermeintliche Normalität ihrer Übertretung zu betonen.
Kurz: Wir brauchen Informationen, aus denen Leserinnen und Leser Schlüsse über die Ursachen der menschlichen und gesellschaftlichen Tragödien und für ihr eigenes Verhalten ziehen können. Ohne Wissen über den Kontext bleibt bei Lesenden der Eindruck, die vielen Kollisionen seien isolierte Einzelfälle: ein unerwünschter Umstand, der sich eben ereignet, passiert, oder geschieht, wie ein Naturphänomen, das als Schicksal über uns kommt.
Verkehrsgewalt und autodominierte Straßen erscheinen in unserem Sprachgebrauch als das Normale. Entscheidungen – vor allem politische – die das Normale ändern wollen, haben so eine schwierige Ausgangslage. Soll die Verkehrswende gelingen, braucht es in den Köpfen eine Abwendung vom Auto als das Normale. Wir können diese gedankliche Wende durch einen genaueren Sprachgebrauch unterstützen. Sprechen wir von Verkehrsgewalt und Kollisionen, statt von Unfällen, reden wir von geöffneten anstatt gesperrten Straßen, benennen wir die Täter, wo sie bekannt sind. So können wir die Mobilitätswende auf die Sprünge helfen, sodass wir am Ende mehr in die Pedale – und nicht auf der Stelle – treten.
Peter D. Norton (2008). Fighting Traffic. The Dawn of the Motor Age in the American City. Cambridge Massachusetts, London, England: The MIT Press.
Dieser Artikel von Dirk von Schneidemesser (Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit RIFS) und Hugo Caviola (Centre for Development and Environment CDE, Universität Bern) ist in mobilogisch!, der Vierteljahres-Zeitschrift für Ökologie, Politik und Bewegung, Heft 1/2024, sowie auf der mobilogisch!-Website erschienen.