In den Wohlstandsländern kann man sich heute fühlen wie im sprichwörtlichen Schlaraffenland: In den Auslagen der Supermärkte findet man Avocados aus Peru, Bananen aus Kolumbien rund um das Jahr, Dutzende von Käse- und Gebäcksorten, Marmeladen, Frischgemüse, Tiefgekühltes und Vorgekochtes zum schnellen Genuss, von den glutenfreien Spaghetti bis zum Fertiggericht in Plastik abgepackt.
Angesichts dieser Fülle essen viele zu viel und werfen zu viel weg. Vom Acker bis zum Teller gehen heute etwa ein Drittel der Nahrungsmittel verloren, pro Jahr sind dies in der Schweiz 330 Kilogramm pro Person (Beretta und Hellweg 2019, S. 6). Die krumme Gurke erfüllt die Massvorgaben nicht, die braune Banane landet wegen ihrer Farbe im Abfall, die Innereien vom Schwein möchte niemand essen. Backwaren, Rindfleisch und Frischgemüse stellen sich als Spitzenreiter von Food Waste heraus. Der Überkonsum und die Verschwendung von Nahrungsmitteln schädigen die Umwelt und das Weltklima, tragen indirekt zu Hunger und zu Fehlernährung bei und schaden der Gesundheit vieler Menschen auch in Ländern mit Wohlstand.
Die Verantwortung für die grossen Verluste tragen all jene, die Lebensmittel wegwerfen. Verantwortung ist aber auch in der sog. Produktionskette angelegt. Gemüse bleibt auf den Feldern liegen, weil es nicht den Wünschen der Abnehmerbetriebe entspricht, Hygienevorstellungen rufen nach Ablaufdaten, Supermärkte stehen in Konkurrenz um hohe Konsumzahlen und suchen Wachstum. Tiefpreise und Aktionen locken Kunden an, tragen hohe Lagerbestände ab und bewahren Lebensmittel vor dem Weg in die Tonne. Tiefpreise entwerten die Lebensmittel aber auch und laden zum Überkonsum und zum Verschwenden in den privaten Haushalten ein. Kurz: Food Waste ist komplex und zeigt, dass in wohlhabenden Ländern im Umgang mit Lebensmitteln auch Sachzwänge und Routinen regieren, die von der Verantwortung der Einzelnen abgelöst erscheinen. Im Ganzen schaffen wir einen Überfluss, der die Produktionskette zugleich zur Verlustkette macht.
Die wachsenden Erkenntnisse um Food Waste und dessen Folgen für Klima und Umwelt haben in den letzten Jahren ein neues Problembewusstsein hervorgebracht. Bemühungen in der Landwirtschaft, in der Verarbeitung, in Vertrieb und Verkauf, in der Gastronmie, in Gemeinden, beim Bund und bei NGOS zeugen davon. Es gibt heute Rezeptbücher gegen Food Waste und Food-Waste-Apps, die überschüssige Ware zum Verkauf anbieten - und vieles mehr. https://foodwaste.ch/lokale-initiativen/
Dass auch der Sprachgebrauch zum Umgang mit Lebensmitteln beiträgt, wird bisher kaum beachtet. Ein Blick auf den sprachlichen Umgang mit Lebensmitteln und dem Food Waste kann dazu beitragen, dieses Problembewusstsein zu schärfen - und neue Sichtweisen aufzeigen.
Welches sind die Schlüsselwörter, mit denen wir uns über Food Waste verständigen? Wo man im privaten Haushalt oft von Wegwerfen spricht, bietet sich auch der entlastende Begriff des Entsorgens an. Mit dem Entsorgen entfernen wir die verschmähten Lebensmittel gegen eine Gebühr aus unserer ‘Sorge’, weil sie keine Abnehmerinnen finden. Aber auch Wörter wie verschwenden (Verschwendung), vergeuden (Vergeudung), verlieren, verloren gehen (Verluste), Abfall, wegwerfen erfassen Haltungen gegenüber von Esswaren. Zu diesen gehört neu auch die Lebensmittelrettung, die in eine ganz andere Richtung weist.
Im Folgenden zeigen wir auf, welche Sichtweisen diese Wörter für unser Denken eröffnen, was sie vermitteln und was sie ausblenden, welche Rollen sie für Menschen eröffnen und welche Werte, Haltungen und Handlungsmotivationen mit ihrem Gebrauch einhergehen. Wir fragen: Welche Vor- und Nachteile führt ihr Gebrauch für das Vermeiden von Food Waste mit sich?
Wir nehmen die Ergebnisse unserer Untersuchung in verkürzter Form vorweg und stellen einige Alternativen zum verbreiteten Sprachgebrauch vor. In einem zweiten Schritt folgen eine vertiefende Herleitung und Begründung.
Ausdruck / Wendung | Vorteile | Nachteile | |
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1 | wegwerfen | Wenn konjugiert, lässt das Verb AkteurInnen erkennen. Beispiel: Petra wirft viel weg. |
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2 | entsorgen | Das verwaltungssprachliche Verb verweist auf eine staatliche Autorität, die mit dem Entsorgten verantwortungsvoll verfährt. |
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3 | Lebensmittelverluste |
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4 | vergeuden | Das Verb vergeuden erlaubt, die Verantwortlichen zu benennen. Beispiel: Peter und Julia vergeuden Lebensmittel. Das Verb bezieht sich meist auf ein beschränkt vorhandenes und wertvolles Gut und klagt dessen Verlust in einem emotionalen und moralischen Appell an. | Vergeuden klingt heute für manche altmodisch. Seine moralische Färbung steht gegen den Zeitgeist, insofern als heute für die Produktion und Konsum von Lebensmitteln kein festes Mass besteht. |
5 | verschwenden | Das Verb lässt wie vergeuden zu, die Verantwortlichen direkt zu benennen. Beispiel: Die Bevölkerungsgruppe XY verschwendet viel. Es ist in der gelebten Alltagserfahrung verankert und drückt ein Nicht-Sollen aus. Der Gebrauch des Verbs kann so direkt als emotionaler Appell wirken und zu einem veränderten Handeln anleiten. | Der Gebrauch des Verbs kann einen sorgsamen Umgang mit Lebensmitteln anleiten. Im Nomen Lebensmittelverschwendung sind hingegen die Verantwortlichen nur indirekt mitgemeint. |
6 | Food Waste | Der Ausdruck benennt ein Problem der Konsumgesellschaft mit einem Fremdwort, das heute mehr und mehr akzeptiert ist. Der Ausdruck besitzt die Autorität eines ökologischen Fachbegriffs. |
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7 | Abfall | Identifizieren und Entsorgen von Abfall gehören zu den Errungenschaften der Arbeitsteilung in einer um Hygiene bedachten Kultur. |
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Unsere Untersuchung zeigt, dass wir das verschwenderische Handeln häufig sprachlich versachlichen. Wörter wie Food Waste, Lebensmittelverluste und Abfall drücken eine distanzierende Sprechhaltung aus, mit der wir uns Vorgänge sprachlich vom Leib halten. Das verschwenderische Handeln wird in Nomen vergegenständlicht und von den AkteurInnen abgelöst: Aus verlieren werden Verluste, aus wegwerfen wird im Abfall landen und aus verschwenden wird Verschwendung und Food Waste.
Diese sprachliche Distanzierung birgt beträchtliche Vorteile. Sie erlaubt es, ein wichtiges Thema nüchtern zu betrachten, es (wie etwa Beretta und Hellweg 2019) quantifizierend zu untersuchen, ohne voreilig Emotionen zu erregen.
Umgekehrt kann man diese Versachlichung auch als Teil des Problems ansehen. Man kann argumentieren, dass die sterile und von Personen abgelöste Darstellung der Missstände diese indirekt auch befördert, indem sie die Verantwortung der Menschen aus dem Blick rückt. Das englische Fremdwort Food Waste verstellt systematisch den Blick auf jene, die ‘wasten’, d. h. verschwenden und vergeuden. Dasselbe gilt für das Nomen Lebensmittelverluste, wenn damit vermeidbare Verluste, d. h. Verschwendung benannt ist. Geht etwas verloren, so erscheint dies als Unglück, für das niemand klare Verantwortung trägt. Konjugierte Verbalformen wie Sie verschwenden oder vergeuden sind in den untersuchten Texten rar, dagegen ist neben Food Waste von Lebensmittelverschwendung die Rede.
Teil des Food-Waste-Problems bildet auch das Wort Abfall, weil auch es die Verantwortung der Wegwerf-TäterInnen aus dem Blick rückt. Was als Abfall gilt, wird von der Kategorie des Wertvollen in jene des Wertlosen versetzt. Dazu reicht, dass eine Speise auf dem Teller zurückgelassen wird. Allein der Wortgebrauch entsorgen und wegwerfen wertet das Weggeworfene ab. In der Formulierung XY landet im Abfall macht sich das verschmähte Lebensmittel gleichsam selbsttätig auf den Weg in den Abfall, in welchem es – zumindest sprachlich – ohne menschliches Zutun ankommt, d.h. landet. Dass es nach dieser ‘Landung’ wieder ‘abheben’ könnte, ist schwer denkbar, denn das als Abfall Entwertete müsste dazu in einen Rohstoff, eine Ressource, umgedeutet werden. Wörter wie weiterverwerten und rezyklieren benennen solche Handlungen, setzen aber eine Abwertung einer Sache als Abfall voraus. Eine Alternative wäre vielleicht das Verb nachsorgen. (vgl. unten).
Wir sehen: Zahlreiche Formulierungen machen es uns leicht, uns das Problem Lebensmittelverschwendung vom Leib zu halten.[1] Unterstützt wird dies durch den Umstand, dass es uns gelingt, den Abfall durch grosse organisatorische Leistungen unsichtbar zu machen. Diese ‘Verdrängung’ ist nicht nur ein linguistischer Befund. Auch eine sozialwissenschaftliche Studie des BAFU gelangt zum Schluss, dass VerschwendungstäterInnen sich gern selbst entlasten. So anerkennen sehr viele Befragte Food Waste als ein Problem. Auf die Frage aber, wer Lebensmittel wegwirft, glauben sie, dies seien vor allem die anderen (Bieri et al 2014, S. 6).
Ein angepasster Sprachgebrauch könnte dieser Tendenz entgegensteuern. Warum soll man VerschwendungstäterInnen, wo sie bekannt sind, nicht auch sprachlich erkennbar gemachen? Und wichtiger: Welche Formulierungen könnten uns helfen, Food Waste zu vermindern?
Die Verben vergeuden und verschwenden lassen sprachliche Sichtweisen zu, die AkteurInnen benennen, die Nahrungsmittel verschwenden und vergeuden. Beispiel: Vermarktungsvorgaben zwingen Obstbauern, 4-6% der Kirschernte auf dem Feld liegenzulassen und so zu verschwenden. Hier werden nicht nur anonym Verluste genannt, sondern die Hintergründe der Verschwendung mitbeleuchtet. Zudem lassen die beiden Alltagswörter zu, Aufforderungen und Ermunterungen auszusprechen, die handlungsleitend wirken können: Vergeudet nichts, verschwendet keine Lebensmittel!
Als Erweiterung von entsorgen kann das Verb nachsorgen dienen. Sein Gebrauch lenkt den Blick auf die Zeit nach dem Entsorgen, hebt also die Endgültigkeit des Entsorgens auf und betont den Aspekt des fortgesetzten Sorge-Tragens. Zusätzlich schliesst das Wort zusammen mit vorsorgen den Zusammenhang für die Kreislaufwirtschaft. Hier tun sich neue Handlungsmöglichkeiten mit dem Entsorgten auf. Dazu gehört ein Feinunterscheiden (Redifferenzieren), wie es etwa die Mülltaucher vornehmen.
Auch Ausdrücke wie fürsorglich und achtsam sein können dazu anleiten, Abfall genauer zu unterscheiden. Sie beschreiben zudem Haltungen, die Lebensmittel davor bewahren können, unbedacht in den «Abfall zu wandern». Beispiele: Das Unternehmen Äss-Bar, das Backwaren «frisch von gestern» verkauft. (aess-bar.ch)
Der Grossverteiler COOP bietet unter der Marke «Ünique» Gemüse an, das nicht den Normen entspricht, aber geschmacklich tadellos ist, z.B. fleckigen Knoblauch. Was im Abfall liegen könnte, wird so aufs Verkaufsregal geführt und zudem mit der Bezeichnung als ‘Einzigartiges’ (frz. unique) in seiner Individualität gewürdigt.[1] luzernerzeitung.ch (Abgerufen am 5. Mai 2021)
Verhüllende Ausdrücke wie Lebensmittel landen im Abfall befördern hintergründig auch ein Tabu. Sie lenken den Blick weg von der Frage, warum und wie genau Abfall entsteht. Den Prozess des Abfallentstehens bewusst ins Gespräch zu bringen, könnte vielleicht dabei helfen, Tabus und unbedachte Routinen bewusst zu machen und so Abfall zu vermindern.
Auf einer ganz anderen Ebene können eingängige Slogans einsetzen, weil sie durch sprachliche Reize neue gedankliche Zugänge zum Thema Food Waste einprägsam fassen. Einige Beispiele:
geniessen statt wegwerfen (savefood.ch)
restenlos glücklich (Kurs bei foodwaste.ch)
Too good to go (App. bei Migros)
verwenden statt verschwenden (Vereinsname verwenden-verschwenden.ch)
Kompost statt Kübel
frisch von gestern (Äss-Bar)
Die Formulierung Rette Essen, hilf deinem Planeten steht als Motto über der Website der Organisation To Good to Go.
Die Formulierung Essen retten übersetzt den englischen Ausdrucks Food save, eine Gegenbildung zum Ausdruck Food Waste. Anders als die Nicht-Sollens-Ausdrücke vergeuden und verschwenden enthält das Verb retten einen Sollens-Appell, drückt etwas aus, das geschehen soll. Im Englischen kann das Verb save sowohl retten als auch sparen bedeuten. Im Deutschen zielt das Essenretten aber allein auf das Bewahren von Lebensmitteln vor ihrem Untergang. Die Wendung überträgt eine Handlung, die sich gewöhnlich auf gefährdete Lebewesen wie etwa Schiffbrüchige bezieht, auf Lebensmittel und streut so eine Prise Dramatik in das Geschehen. Das Essensretten rückt die Esswaren in die Kategorie des Bedrohten, wertet sie als personenähnlich auf und leitet daraus den Appell ab, mit ihnen sorgsam umzugehen. Das Verb retten eröffnet die sprachlichen Rollen des Retters bzw. der Retterin und weckt damit aktivierende Betroffenheit. Dieser haftet etwas Abenteuerliches an, das für viele (vor allem junge) Menschen verlockend wirken kann. Auch die Mülltaucher gehören in diese Kategorie.
Die nationale Kampagne savefood.ch zieht aus der Retterrolle viel Energie. Sie lädt ihre Mitglieder dazu ein, Food Ninjas zu werden. Der Ausdruck Ninja [ˈnɪndʒa] stammt aus dem Japanischen und bezeichnet besonders ausgebildeter Kämpfer des vorindustriellen Japan, welche als Kundschafter oder Spione eingesetzt wurden. Die Stiftung PUSCH bietet mit der nationalen Kampagne SAVE FOOD FIGHT WASTE Interessierten einen Test und eine sog. Akademie zur Ninja - Ausbildung an und nutzt damit das Rollenangebot des kühnen Retters wirkungsvoll aus, indem sie etwas Moralbeladenes (Vergeude keine Lebensmittel!) in etwas ummünzt, das ein Wir-Gefühl (Ich gehöre zu den Ninjas!) anbietet und dieses mit etwas Abenteuerlichem und Löblichem (Ich rette gefährdete Esswaren!) verbindet (Abb. 3).
Die Ährenleserinnen: Wie relativ die heutigen Ernährungsumstände sind, führt das Beispiel der sog. glaneuses aus dem Jahr 1857 vor Augen. Das Gemälde von Jean-François Millet zeigt Frauen bei der sog. Nachlese oder Ährenlese. Bis heute legt das französische Gesetz ein Recht der ärmeren Schichten fest, auf abgeernteten Feldern Ähren aufzulesen. Sprachlich wird diese soziale Rolle im Begriff der glaneurs bzw. glaneuses von glaner, „auflesen“, „einsammeln“, gefasst.
Die Ährenleserinnen bekämpften Lebensmittelverschwendung lange bevor es diesen Begriff gab – und ohne Blick auf das Weltklima und heutige Begriffe wie Food Waste und Suffizienz. Mangel und drohender Hunger verliehen den Ähren ihren Wert. (Vielleicht aber auch Vorstellungen, dass nur «Arme» Überschüssiges auflesen.) Heute bückt sich auf den Kornfeldern Mitteleuropas niemand mehr nach liegen gebliebenen Ähren. Dafür greifen manche im Supermarkt nach verbilligten Lebensmitteln, die zu Schnäppchenpreisen zu haben sind. Zum Beispiel ein Kilo Rindshackfleisch zu Fr. 10.50 oder ein australisches Lammrack zu Fr. 4.25 per 100 Gramm, wie die untenstehende Werbeanzeige sie anpreist.
Der Wert von Lebensmitteln hat sich in den letzten Jahrzehnten drastisch reduziert. Der Ladenpreis liegt weit unter dem ökologischen Wert, welcher landwirtschaftlichen Anbau, Verarbeitung, Transport und begleitende Verschwendung einschliesst.[1] ernaehrungsdenkwerkstatt.de (abgerufen am 10. März 2021) Obwohl wir so viel konsumieren wie nie zuvor, geben wir nur knapp 10 Prozent unseres Einkommens für unser Essen aus, ein Anteil, der 1969 noch rund 30 Prozent ausmachte.[2] statista.com (abgerufen am 2. Mai 2021) Während 1950 in Deutschland ein Kilogramm Schweinefleisch 1,6 Prozent des monatlichen Nettoverdienstes kostete, waren es 2002 nur noch 0,28 Prozent.[3] wikiwand.com (abgerufen am 20. Mai 2020) Das Fleisch hat sich also um mehr als das Fünffache entwertet. Dies will nicht heissen, dass der Preis keine Rolle mehr spielt: Laut einer Studie des BAFU von 2014 orientiert sich in der Schweiz etwa ein Viertel der Bevölkerung stark am Preis von Lebensmitteln, z.B. an Aktionen (Bieri et al 2014, S. 6). Dennoch: Wer in der Schweiz heute über ein durchschnittliches Einkommen verfügt, kann es sich leisten, Lebensmittel wegzuwerfen und zu vergeuden.
Die Welt der Oma. Um einen sorgsamen Umgang mit Esswaren zu sehen, brauchen wir nicht bis zu den Ährensammlerinnen im 19. Jahrhundert zurückzugehen. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bietet reichlich Anschauung dazu. Die folgende Aussage stammt von einer zur Zeit des Interviews (2020) 93-jährigen Frau aus einer STERN-Reportage[4] stern.de, 20.10.2020:
Bei uns in der Familie wurde früher nichts weggeworfen. Sonntags beispielsweise gab es Braten. Ein größeres Stück Schweinefleisch und ein kleineres Stück Rind, weil das teurer war. Wenn am Ende noch etwas übrig war, hat meine Mutter daraus am nächsten Tag eine Sülze gemacht. Aus den übrig gebliebenen Kartoffeln wurden Bratkartoffeln gemacht und so weiter. Man muss da einfach ein bisschen kreativ sein.
Ihre Enkelin kommentiert dazu: „Wenn meine Oma sich eine Sache wünschen dürfte, dann wäre das übrigens, dass wir den Wert des Essens wiederentdecken.»
Und die 93-Jährige kommentiert mit Blick auf 2020: „Besonders das gemeinsame Essen scheint überhaupt keine Priorität mehr zu sein. Alle gehen zum Kühlschrank und holen sich raus, worauf sie in dem Moment Lust haben. Das ist ja dann auch völlig unmöglich zu planen. Gemeinsam am Tisch zu sitzen und zu essen – das sollte eine Priorität sein.
Die Zitate zeigen Haltungen, die in der Wohlstandsgesellschaft rar geworden sind. Dazu gehören: a) Das Wegwerfen von Lebensmitteln ist tabu, b) Es wird ein kreativer Umgang mit Speiseresten gepflegt und gefordert. c) Gemeinsames Essen zu festen Zeiten geht vor informellem Essen zwischendurch. d) Ein planender Umgang mit dem Einkaufen, Kochen und Essen wird verlangt.
Entfremdung und Abstraktion: Die Ährenleserinnen und die Oma verbinden mit dem Essen die Erfahrung von Mangel und Armut. Ihr Verhältnis zu ihren Esswaren ist deutlich auch ökonomisch geprägt. Die Oma nennt ausdrücklich die Kosten als Faktor der Fleischzubereitung. Beide erleben auch eine sinnliche Nähe zu ihren Lebensmitteln. Die Oma verwandelt Kartoffelreste in Bratkartoffeln und kocht aus Fleischresten eigenhändig Sülze. Auch die glaneuses nehmen die Ähren von Hand vom Acker auf. Beide Beispiele zeigen einen direkten persönlichen und wertschätzenden Umgang mit den Lebensmitteln. Dieser ist insofern suffizient, als er sich an der beschränkten Verfügbarkeit der Lebensmittel orientiert. Weiter ist der Bezug zum Essen sozial, zeitlich und räumlich bestimmt. Die Ährenleserinnen arbeiten in Gruppen, die Oma hält die Essensrituale in der Familie hoch. Man isst gemeinsam zu bestimmten Zeiten. Die glaneuses finden ihre Ähren zur Erntezeit auf einem nahen Acker. Die Familie der Oma isst an Sonntagen Braten, an Wochentagen verarbeitet sie Reste vom Sonntag.
Verglichen mit diesem sinnlichen Bezug zum Essen, der sich an Orten, Jahreszeiten und Wochentagen orientiert, bleibt das Verhältnis der heutigen KonsumentInnen zu ihren Esswaren in Teilen sehr abstrakt, unserem Wissen und den Sinnen entzogen. Wer kennt den Rebberg, aus welchem die Trauben auf unserem Tisch stammen? Wer den Stall der Schlachttiere, die hinter dem Billigfleisch stehen? Die meisten KonsumentInnen begegnen ihren Esswaren zum ersten Mal im Supermarkt. Diese Entfremdung von der Nahrungsgewinnung ist Teil der globalen Agrarindustrie. Das ‘Schlaraffenland’ ist ohne Globalisierung und Industrialisierung nicht denkbar. Diese widerspiegelt sich auch in der Sprache. Ihr Schlüsselvokabular ist zeit- und ortsenthoben. Wo früher – zumindest im Bewusstsein der ländlichen Bevölkerung – anschaulich von Saat, Acker, Anbau und Ernte die Rede war, regiert heute das Abstraktum Lebensmittelproduktion.[5] Der Produktions-Frame setzt sich heute auch im Bio-Diskurs durch: So finden wir beispielsweise in einem Heft von BIO-Aktuell. Magazin der Biobewegung ,1/19 ein Vokabular, das weitgehend einen ökonomisch-industriellen Frame aufruft: Vermarktung, Marktteilnehmer, Produktionsmanagerin Fleisch, Biomarkt, den Raufuttermarkt ankurbeln, Schweinevermarkter etc. Lange Produktionsketten verbinden Acker, Verarbeitungsbetriebe und Handel. Produktionsketten bilden aber zugleich Verlustketten (Gille 2012). Auch diese entziehen sich weitgehend unserer sinnlichen Wahrnehmung. Wer seine Lebensmittel in einem Supermarkt kauft, riecht keinen Pestizideinsatz und sieht weder Masttierhalle noch Schlachtfabrik. Auch der Food Waste und seine Folgen entziehen sich unserer Anschauung. Die Food-Waste-Forschung weist heute nach, dass die meisten Lebensmittel im Detailhandel, in der Gastronomie und in den privaten Haushalten verloren gehen (Beretta und Hellweg 2019, S. 6). Sie ruft dazu auf, die Bevölkerung zu sensibilisieren und ihr die Folgen der einzelnen Verluste bewusst zu machen (Beretta und Hellweg 2019, S. 69). Auch eine Reflexion des Sprachgebrauchs kann zu dieser Sensibilisierung beitragen kann. Könnte ein angemessener Sprachgebrauch dazu beitragen, den Umgang mit den Lebensmitteln bewusster und damit auch den sog. Food Waste sinnlich wahrnehmbarer und damit vermeidbarer zu machen?
Welches sind die Schlüsselwörter, mit denen wir uns über den sog. Food Waste verständigen? Wir schauen uns die Frames von vergeuden (Vergeudung), verschwenden (Verschwendung), entsorgen und verlieren (Verluste) genauer an. Auch werfen wir einen Blick auf das wichtige Wort Abfall. Zur Erinnerung: Wir wollen wissen, welche Sichtweisen diese Wörter auf den Sachverhalt der Lebensmittelverluste eröffnen, was sie sichtbar machen, was sie ausblenden, welche Rollen sie für Menschen eröffnen und welche Werte, Haltungen und Handlungsmotivationen mit ihrem Gebrauch einhergehen.
Obwohl beide Verben eine sehr ähnliche Bedeutung haben - laut Bedeutungswörterduden 2002 - leichtsinnig und verschwenderisch beim Gebrauch mit etwas umgehen - unterscheiden sie sich in ihrer Bedeutung: Wer etwas vergeudet, nutzt bzw. verbraucht etwas leichtsinnig aus einem begrenzten Bestand. Man vergeudet - laut Digitalem Wörterbuch der Deutschen Sprache (DWDS) - zum Beispiel sein Vermögen, Material, seine Kräfte, ja gar seine Lebenszeit. Dies macht vergeuden zu etwas Anstössigem, das es moralisch zu verurteilen gilt. Auch verschwenden bezeichnet laut DWDS einen unnötigen und sinnlosen Verbrauch, aber weniger in Bezug auf ein begrenzt vorhandenes Gut. Man kann etwa Gedanken an etwas verschwenden, aber Gedanken vergeuden kann man nicht. Wer etwas verschwendet, schielt nicht unbedingt auf einen drohenden Mangel. Man kann verschwenderisch handeln und dabei grosszügig sein. Wer hingegen vergeudet, handelt nicht grosszügig, sondern leichtsinnig und unbedacht.[6] https://www.dwds.de/wp/verschwenden Hinzu kommt: Man kann zum Beispiel Geld an etwas verschwenden ohne Ertrag. Eine Frau kann keine Blicke an einen Mann verschwenden. Die Wendung verschwenden an ... öffnet auch den Blick auf das Ziel des Weggebens. Die beiden Verben sind also teilsynonym. Beide Verben - vergeuden und verschwenden - sind in den meisten Zusammenhängen Nicht-Sollens-Wörter, sog. deontische Begriffe, die etwas anzeigen, das nicht geschehen soll.
Auffällig ist, dass das Wort vergeuden laut DWDS seit der Mitte der 1950er-Jahre an Häufigkeit verliert und bis heute immer mehr ausser Gebrauch gerät. Ein Grund dafür mag darin liegen, dass Vergeuden in der Welt der Fülle seine Anrüchigkeit verliert. Denkbar ist, dass in einer zunehmend auf Konsum und Verbrauch ausgerichteten Welt das Bemühen um das Nicht-Vergeuden an Bedeutung verlor. Warum soll man sich um das Weggeworfene sorgen, wenn so billig Neues nachfolgt und wenn es so einfach und effizient entsorgt werden kann? Neue Wörter aus der Konsumwelt bestärken einen sorgloseren Umgang mit dem Wegwerfen: Um die Mitte der 1970er-Jahre kommen laut DWDS die Einwegflasche und das Verb entsorgen in Gebrauch. Wo zuvor ein sparsamer Umgang mit Waren galt - sprachlich getragen durch ein Verb wie vergeuden -, gewinnt nun eine Haltung an Boden, welche das Wegwerfen und sorglose Entsorgen zur neuen Normalität erhebt.
Ein Textkorpus aus dem Zeitraum von 2018-2020 gewährt uns noch tiefere Einblicke in die Bedeutung der Verben vergeuden und verschwenden. Die Textsammlung stammt aus der Basler Zeitung, dem Tagesanzeiger, der Neuen Zürcher Zeitung und der Gratiszeitung 20 Minuten und umfasst 103 Zeitungsartikel zum Thema Food Waste auf 173 Seiten und in rund 86'000 Wörtern.
Die folgenden (und einzigen Sätze mit diesen Wörtern) zeigen, wie das Verschwenden von Lebensmitteln in leicht unterschiedlicher Weise sprachlich gefasst wird:
(1) Privathaushalte verschwenden bis zu 45% der Lebensmittel. (TA, 3.4.2019)
(2) Um selber möglichst wenig Lebensmittel zu verschwenden, setzt das Café Boy abends auf einen «Rettungsteller» mit Gerichten, die am Mittag übriggeblieben sind. (TA, 12.9.20)
(3) 2,6 Mill. Tonnen Lebensmittel werden jährlich verschwendet. (NZZ, 9.8.19)
(4) Er hat des Öfteren über das französische Gesetz zur Bekämpfung der Lebensmittelverschwendung berichtet. (BaZ, 4.3.19)
(5) Frankreich war damit das erste Land weltweit, das die Lebensmittelverschwendung unter Strafe stellte. (BaZ, 4.3.19)
(6) Vorzeigebeispiel (für klimafreundliche Massnahmen in staatlichen Institutionen) sei Kopenhagen, wo ein Anteil von 90 Prozent erreicht wurde - dank der Reduktion von Fleisch, dem Verzicht auf Fertigprodukte und der Eindämmung von Lebensmittelverschwendung offenbar sogar kostenneutral. (BaZ, 25.9.19)
Wie werden die Akteure des Verschwendens dargestellt? In den Beispielen (1) und (2) sind sie Privathaushalte und das Café Boy, also ein personifizierter Kollektivbegriff und eine Institution. Konkrete Menschen kommen nicht in den Blick. Im dritten Satz Lebensmittel werden ... verschwendet sind die AkteurInnen hinter einer Passivformulierung versteckt. Wer handelt und Verantwortung trägt, wird unsichtbar.
Auch das Nomen Lebensmittelverschwendung und die Wendung Gesetz zur Bekämpfung der Lebensmittelverschwendung erfassen die Handlung des Verschwendens als vom Menschen abgelösten Quasi-Gegenstand. Einzig, wo Lebensmittelverschwendung unter Strafe gestellt wird, wird deutlich, dass diese von Menschen verantwortet ist und deshalb geahndet wird. Die Abstraktion, die wir in der Darstellung der sog. Lebensmittelproduktion feststellten, setzt sich offenbar in der Darstellung der Lebensmittelverschwendung fort.
(7) Das Vergeuden von Lebensmitteln (TA, 26.10, 19, S. 23)
(8) Bevor er sich mit seinem Verein Grassrooted dem Kampf gegen Food-Waste verschrieb, dem Vergeuden von Lebensmitteln, arbeitete er als Gärtner.
Auch die beiden einzigen Belege zu vergeuden nominalisieren das Verb. Vergeuden erscheint als Quasi-Gegenstand, das Vergeuden. Die konkrete Handlung hinter diesem Nomen bleibt denkbar und hinterfragbar, doch im Ganzen abstrakt. Wer vergeudet und wann, bleibt nebulös. Was man in der Verbform konkret darstellen könnte, wird objektiviert und abgelöst von einem konkreten Ort, einer Zeit und von den Menschen, welche die Handlung verantworten.
Die Textsorten aus unserem Korpus umfassen neben Berichten und kurzen Meldungen zahlreiche Interviews. Diese geben weniger direkt Erlebtes wieder, sondern suchen meist Übersicht und neigen daher zur Abstraktion. Auch der Umstand, dass sie Qualitätszeitungen und nicht dem emotionalisierenden Genre des Boulevards entstammen, erklärt die eher distanzierende sprachliche Form. In Texten dieses Zuschnittes werden wir kaum auffordernde Sätze finden wie «Vergeuden Sie nichts!». In den vorgefundenen Sätzen erscheinen das Vergeuden und Verschwenden als weitgehend von den Menschen abgelöste Vorgänge. Wo Lebensmittelverschwendung etwa wie in Satz (6) «eingedämmt werden soll», erscheint sie wie ein Naturgeschehen, das ohne menschliches Zutun über die Menschen kommt. Anders gesagt: Die Verben vergeuden und verschwenden lassen wohl personifizierte Sichtweisen zu, die menschliche Akteure genau identifizieren und sichtbar machen – der Satz Privathaushalte verschwenden bis zu 45% ihrer Lebensmittel... kommt einer solchen Sichtweise nah – doch diese Darstellungsmöglichkeiten des Verbs werden in den untersuchten Texten kaum genutzt, bleiben also blinde Flecken im journalistischen Food-Waste-Diskurs. Auch eine sinnliche Nähe zum Umgang mit dem Wegwerfen und Verschwenden kommt nirgends in den Blick.
Man kann diese von Personen abgewandte sprachliche Darstellung als ein Abweisen von individueller Verantwortung deuten. Dies trifft zweifellos zu, wo es um konkrete Handlungen Einzelner geht. Betrachtet man aber Food Waste aus grösserer Distanz als gesamtgesellschaftliches Problem, wie dies in vielen der obigen Zitate geschieht, so würde es zu kurz greifen, die Verantwortung dafür allein Einzelnen zuzuschreiben. Die Soziologie spricht zurecht von einer verteilten Verantwortung (distributed responsibility) in einem Netz von Akteuren (Evans et al 2017). Food Waste gewinnt immer dann ein klar erkennbares Gesicht, wenn man auf einzelne Glieder in der Verlustkette blickt. Die abstrakte, Verantwortung verhüllende sprachliche Darstellung ist aber zweifellos sachgerecht, wo es um das Erfassen umfassender Sachverhalte geht. Dieselben akteurabgewandten Formulierungen können Verantwortung aber auch verhüllen, wenn sie konkretes Handeln Einzelner durch eine Abstraktion unsichtbar machen.
Im Vergleich zur verhüllenden sprachlichen Abstraktion in den genannten Texten führen Bilder wie die untenstehenden das Verschwenden von Esswaren in konkreten Alltagszusammenhängen vor. Abbbildung 6 verrät, wie Restaurantgäste als ‘TäterInnen’ grosse Teile ihrer Portionen zurückliessen, Abbbildung 7 zeigt, wie jemand Esswaren direkt in Abfall verwandelt. Food Waste wird auf diese Weise konkret sinnlich fassbar, ist mit Händen zu greifen. Der Übergang von der leckeren Speise zum Abfall ist über den Bildbezug leicht als konkrete Handlung nachvollziehbar. Mit ihrem Fokus auf Einzelteller illustrieren die Bilder auch, wie das subjektive Sattheitsgefühl eines Menschen zum ‘Urteil’ über eine Speise wird. Was jemand auf dem Teller zurücklässt, wird leicht zum Abfall.
Eine Studie im Auftrag des Bundesamtes für Umwelt von 2014 stellt fest, dass nur ca. 40 Prozent der Deutschschweizer Bevölkerung mit dem Ausdruck Food Waste vertraut sind. Die Befragten können daher viel weniger genau angeben, welche Vorstellungen sie mit diesem Ausdruck verbinden als mit dem Ausdruck Lebensmittelverschwendung (Bieri et al. 2014, S. 55).
Dennoch fragt sich, was ein Fremdwort wie Food Waste heute so attraktiv macht.[7] Er erscheint in unserem Korpus 166 Mal und gibt einer grossen Nonprofit Organisation gegen Lebensmittelverschwendung ihren Namen (www.foodwaste.ch). Die beiden Grossverteiler Migros und Coop ebenso wie der Schweizerische Bauernverband benutzen ihn ebenso wie zwei wichtige Schweizer Studien zum Thema (Beretta und Hellman 2019, Bieri et al 2014). In Deutschland und Österreich scheint der Begriff weniger verbreitet als in der Schweiz.Diese Erklärungen bieten sich auf Anhieb an:
Das Wort ist mit bloss zwei Silben kurz, folgt also dem Bedürfnis nach Sprachökonomie.
Ähnlich wie etwa Airline (statt Fluggesellschaft) führt das Fremdwort Food Waste einen Hauch von Internationalität und moderner Welt mit sich. Er lässt ein lokales Phänomen als internationales Problem erkennen und signalisiert einerseits: Das Problem hat eine globale Dimension. Es kann andererseits auch entlastend wirken im Sinne von: Unser Problem wurde zuerst draussen in der weiten Welt erkannt und wir teilen es mit vielen anderen Industrieländern, die es vermutlich gleich benennen. Das Fremdwort schafft eine emotionale Distanz zum benannten Problem.
Food Waste gehört in das Register der Fachwörter. Es entstammt den ‘höheren Sphären’ der Umweltwissenschaften und deren Analyse und nicht einer banalen Alltagserfahrung wie etwa jener der Ährenleserinnen oder der Oma aus der Nachkriegszeit, in der Wörter wie verschwenden und vergeuden zuhause sind. Als Fachwort trägt es einen Beigeschmack von Geprüftheit durch ExpertInnen. Wer von Food Waste spricht, reiht sich – zumindest sprachlich – in die Reihe dieser Fachleute ein.
Das englische Wort waste bedeutet Verschwendung und zusätzlich Abfall. Im Deutschen unterscheiden wir hier in zwei Wörtern, während das Englische in einem Wort beides greift. So bevorzugen Biogasanlagen zum Beispiel den Begriff Lebensmittelabfälle, weil sie verdeutlichen wollen, dass sie Abfälle (und eben nicht verschwendete Lebensmittel) in Energie verwandeln.
Es kann sein, dass in der viersprachigen Schweiz ein Ausweichen auf den englischen Ausdruck einfacher ist.
In unserem Korpus erscheint der Ausdruck Food Waste exemplarisch in Wendungen wie diesen:
(1) Wie kann man daheim Food Waste verhindern? (TA 25.5.19)
(2) Food-Waste-Rezepte finde ich an den Haaren herbeigezogen (TA 25.5.19)
(3) Aldi löst Food-Waste-Problem. (TA, 3.1.20)
(4) Künftig sollen neun Zehntel des Food Waste in der landwirtschaftlichen Produktion verhindert werden (TA, 3.1.20)
(5) Der Kampf gegen Food Waste ist salonfähig geworden (NZZ, 21.5.19)
(6) Initiativen gegen Food Waste sind in letzter Zeit fast explosionsmässig gewachsen. (NZZ, 21.5.19)
(7) Die Pioniere der Anti-Food-Waste-Bewegung in der Schweiz (NZZ, 21.5.19)
(8) Food Waste bewegt jeden, weil er isst und eine persönliche Beziehung zur Verwendung hat. (NZZ, 21.1.20)
(9) Zwei Drittel des Food Waste gelten als vermeidbar. (BaZ, 9.8.19)
(10) Wir verhindern so Food Waste. (BaZ, 20.4.19)
(11) Nicht überall sind dieselben Akteure für Food Waste verantwortlich. (BaZ, 9.8.19)
Food Waste erscheint in diesen Zitaten als Problem, als Schwierigkeit und Herausforderung (4 x Food Waste verhindern bzw. vermeiden, 1 x Kampf gegen F.W., 1x Initiativen gegen F.W.). Dass dieses Problem menschengeschaffen ist, wird hingegen weitgehend verdeckt. Das Verb to waste ist (noch) nicht so weit eingedeutscht, dass Formulierungen wie ich waste, du wastest möglich wären, wie ich checke ein, du checkst ein zu einchecken. Der Ausdruck Food Waste bezeichnet für das deutschsprachige Ohr vor allem eine Sache, kaum aber die Handlung, welche dieser Sache zugrunde liegt. Der nominale Charakter von Food Waste macht daher die ‘Wasterinnen’ und ‘Waster’ weitgehend unsichtbar.
Viel ‘persönlicher’ wirken dagegen die Nomen Lebensmittelverschwendung und -vergeudung und hinter ihnen die Verben verschwenden und vergeuden. Dies, weil sie aus unserem gelebten Alltag stammen und personenbezogene Sichtweisen wie ich verschwende, wir vergeuden und direktive Sprechhandlungen wie Hört auf zu verschwenden! einschliessen. Zudem fassen die Nomen Vergeudung und Verschwendung wertende Haltungen und Handlungsmassstäbe, die wir mit dem Fremdwort Food Waste nur schwer verbinden. Neben Imperativen wie Vergeude nichts!, Verschwende nichts! wirkt eine Formulierung wie Vermeiden Sie Food Waste! oder die oben zitierte Wendung Bestimmte Akteure sind für Food Waste verantwortlich steril, distanziert und moralisch neutralisiert. Die Verben vergeuden und verschwenden enthalten einen Nicht-Sollens-Appell, der sich direkt an Menschen richten kann. Dass Food Waste ein neutral anmutendes Wort ist, bestätigt die BAFU-Untersuchung (2014, S. 56). Darin zeigte sich, dass die Befragten mit dem Wort Food Waste deutlich weniger differenzierte Vorstellungen verbanden als mit dem Wort Lebensmittelverschwendung. Die Verben verschwenden und vergeuden sind geerdete ‘Herzenswörter’, Food Waste dagegen ist eher ein ‘Kopfwort’ aus dem gedanklichen Werkzeugkasten der Wissenschaft. Je nach Kommunikationssituation und den Kommunikationszielen (will man etwa informieren oder zur Handlungsänderung im privaten Haushalt aufrufen) lassen sie sich auch einsetzen.
Eine moralische Neutralisierung wie von Food Waste geht übrigens auch vom Fremdwort Littering aus. Es bezeichnet das nachlässige Zurücklassen von Abfällen im öffentlichen Raum. Was Wörter wie Vermüllung oder Verschmutzung als moralisch verwerflich und sinnlich anstössig markieren, bleibt mit dem Wort Littering neutralisiert. Müll, Schmutz und das Adjektiv schmutzig lassen an unangenehme Alltagserfahrungen, etwa an schmutzige Schuhe oder einen stinkenden Müllsack denken, Littering dagegen beeindruckt vor allem als englisches Fachwort.
Mit den Bezeichnungen Food Waste und Littering verlagern wir Probleme hinter eine Glaswand, von wo sie unsere Gefühle nur schwer erreichen. Die sterilen Fremdwörter lösen sich von unserem sinnlich und sittlich empfundenen Alltag ab. Sie lassen uns nur schwer etwas riechen und sehen und wirken wie moralische Anästhetika.
Lebensmittelverluste werden in der Forschung in vermeidbare (food waste) und unvermeidbare (food loss) Verluste unterschieden. Als vermeidbar gilt alles, was grundsätzlich essbar ist (z.B. Apfelschale oder Pizzarand), unvermeidbare sind z.B. nach dem heutigen Stand der Technik nicht vermeidbare Rückstände beim Putzen einer Pasta-Produktionsanlage oder ungeniessbare Teile von Lebensmitteln wie Knochen oder Bananenschalen (Beretta und Hellweg 2019, S. 11).
Grammatisch ist das Wort Verlust die nominalisierte Form des Verbs verlieren. Verlieren bezieht sich auf ein Abhandenkommen, ein nicht gewolltes Einbüssen, Aufgebenmüssen. Man verliert etwas meist gegen den eigenen Willen (laut DWDS z. B. Punkte in einem Spiel, die Kontrolle, einen Job, den Anschluss etc.). Lebensmittelverluste erscheinen entsprechend als Vorgänge, die Menschen widerfahren, für die sie – anders als beim willentlichen Wegwerfen und Vergeuden – nur beschränkt Verantwortung tragen. Mit Verlusten verbinden wir meist ein Bedauern und etwas Schicksalhaftes. Der Gebrauch des Wortes Lebensmittelverluste kann daher entlastend wirken. Das Wort weckt kaum moralische Impulse. Ausser, wenn damit fehlende Sorgfalt verbunden ist. Diese moralische Dimension im Ausdruck Verluste gälte es in Bezug auf die vermeidbaren Lebensmittelverluste zu stärken. Die Unterscheidung von vermeidbaren und unvermeidbaren Lebensmittelverlusten – und der Gebrauch dieser Wendungen – kommt diesem Anspruch nach.
Das Verb entsorgen kam in den 1980er-Jahren als verwaltungssprachlicher Ausdruck in Gebrauch und bedeutet Abfall beseitigen, von Abfall befreien. Es bezieht sich meist auf Abfälle, Abwasser, Verpackungen, kann aber auch Lebensmittel einschliessen, wie einige Beispiele aus unserem Korpus zeigen:
Für die Ladenbetreiber ist es oft billiger, die Lebensmittel zu verschenken, als sie zu entsorgen. (NZZ, 3.4.19)
Es gibt aber Schiffe, die mit gutem Beispiel vorangehen, die Essensabfälle an Bord trocknen und erst an Land entsorgen. (NZZ 4.10.19)
Der Regierungsrat teilt die Einschätzung, dass es unter ethischen, sozialpolitischen und ökologischen Gesichtspunkten nicht sinnvoll ist, Lebensmittel, die noch konsumiert werden dürfen, als Abfall zu entsorgen. (TA, 21. 6. 19)
Laut DWDS ist entsorgen eine Gegenbildung zu den ebenfalls verwaltungssprachlichen Verben besorgen und versorgen. Eine ältere Bedeutung von entsorgen im Sinne von ‘(Menschen) von Sorgen befreien’ ist heute nicht mehr im Gebrauch. (Beispiel: Die Sittsamkeit (der Frau) entsorgt des Mannes Hertz. 1686[8] https://sprache.hypotheses.org/293 (Abgerufen am 29. März 2021)) In der traditionellen Landwirtschaft kam das Wort entsorgen nicht vor, da viele Küchenabfälle und andere Lebensmittelverluste als Schweine-, oder Hühnerfutter verwertet wurden.
Da man in der Regel Dinge entsorgt, die man als nutzlos oder wie Atommüll als gefährlich einschätzt, wertet man diese mit deren Entsorgung ab. Man entlässt sie buchstäblich aus der eigenen Sorge, indem man sie einer staatlichen Stelle, der Kehrrichtabfuhr etc. überlässt. Diese soll gegen eine geringe Gebühr mit den geeigneten technischen Mitteln verantwortungsvoll mit ihr verfahren. Die sog. Entsorgungsgebühren geben diesem ‘Ablass’ einerseits einen bestimmten Preis, regulieren andererseits die Mengen des Entsorgten in einem gewissen Mass. Auch ist die getrennte Entsorgung von Grün- und Küchenabfällen dazu angetan, ökologische Sorgen in einem gewissen Maß zu zerstreuen.
Bedenkt man aber den Umstand, dass heute trotz dieser sprachlichen und praktischen Regelung etwa ein Drittel der Lebensmittel weggeworfen wird oder durch Achtlosigkeit verloren geht, muss man den Ausdruck entsorgen als euphemistisch (beschönigend) einstufen. Das gängige Entsorgen von Lebensmitteln bietet wenig Anlass, Sorgen zu zerstreuen, sondern bildet eher eine Quelle der Besorgnis, mitunter, weil der Begriff des Entsorgens mit den entsorgten Dingen abwertend und sehr pauschal verfährt (Blühdorn 1991, S. 345). Entsorgen ist ein deontischer Ausdruck, der das Nicht-Erwünschtsein, das Nicht-Da-Sein-Sollen einer Sache ausdrückt. Ein Ausdruck wie rezyklieren im Sinne von wiederverwerten und wiederverwenden beleuchtet viel genauer, was mit der entsorgten Sache weiter geschehen soll. Dazu weiter unten mehr.
Handlungstheoretisch gehört Abfall in die Kategorie der indirekten Handlungsfolgen (Quante 2016). Jede zweckgerichtete Handlung richtet ihren Fokus auf ein bestimmtes direkt anvisiertes Ziel (z.B. ein Brot zu backen). Was nebenbei abfällt, gerät automatisch aus dem Fokus, wird leicht übersehen. In einer auf Produktion und Zeitgewinn ausgerichteten Kultur rückt nicht direkt Nützliches leicht aus dem Blick. Zu diesem Übersehenen und als nutzlos Ausgeschiedenen gehört der Abfall.
Der Ausdruck Lebensmittelabfall wird in der Regel für Lebensmittelverluste verwendet, die am Schluss der sog. Lebensmittelkette anfallen. Dazu gehört grundsätzlich schwer Geniessbares wie Eierschalen, aber auch jenes, über das menschliche Vorlieben entscheiden, ob es bewahrt oder weggeworfen wird (Beretta und Hellweg 2019, S. 11). Sprachlich leitet sich das Nomen Abfall vom Verb abfallen her. Laut DWDS bedeutet Abfall (in Bezug auf unser Thema) der unverwertbare Überrest, der bei einer Arbeit entsteht, zum Beispiel Abfall in der Küche, im Haushalt. Diese Art von Abfall gewinnt mit der Ausbildung der Industrie- und Konsumgesellschaft an Gewicht. Beispiele sind auch sog. industrieller und radioaktiver Abfall. Die Beispiele zeigen Abfall als etwas Minderwertiges, Nebensächliches und zum Teil Gefährliches, das übriggeblieben ist und nicht mehr verwertet werden kann oder wird. Schauen wir uns den Frame des Wortes in Bezug auf Lebensmittelabfälle genauer an.
In unserem Korpus kommen Lebensmittelabfälle hauptsächlich in Behältnissen vor. Diese Behältnisse grenzen den Abfall von den bewahrenswerten Dingen ab und entziehen ihn den Blicken. Dazu gehören die Abfalltonne, der Abfallsack (TA, 4.3.19), der Abfallkübel (TA, 20.9.18), der Abfalleimer (TA 28.12.18) und der Abfallcontainer (NZZ, 21.5.19). In der Wendung: Wir werfen etwas in den Abfall wird Abfall selbst (metonymisch)[9] Gr. Metonymia (rhetorische Figur): ‘Verschiebung’ in eine sachliche, physikalische oder kausale Nähe des Gemeinten, z.B. Autor für sein Werk (Goethe lesen), Behälter für Inhalt (ein Glas trinken) etc. (Reisigl 2016, S. 41) als imaginäres Behältnis gesehen. Seine Herleitung vom Verb ab-fallen deutet zudem eine fallende Bewegung nach unten an. Der ‘Abfall’ ist metonymisch auch das Ergebnis eines ‘Abfallens’, das ‘Abgefallene’. Hier sei nur beiläufig erwähnt, dass unsere Kultur oben und unten mit Wertungen verbindet. Oben gilt in der Regel als positiv, unten als negativ. Beispiele: Eine Speise löst ein kulinarisches Hochgefühl aus, oder die Wirtschaftsentwicklung zeigt nach unten. Geht es uns gut, sind wir in einem Hoch, sind wir in schlechter Verfassung in einem Down, niedergeschlagen (Lakoff und Johnson 1980). Auffällig ist, wie wenig diese Abfall-Behältnisse ihren Inhalt differenzieren. Während am Anfang der Konsumkette, im Supermarkt, alles fein unterschieden wird, etwa in Milchprodukte, Süssspeisen, Gemüse, Teigwaren, Kaffee etc., verfahren die Abfalleimer sehr pauschal. Küchenabfälle machen heute 38 Prozent der Lebensmittelverschwendung aus, und sie werden bestenfalls in Grünabfall bzw. Kompost und anderes unterschieden. Man wirft die unnützen Dinge – auch sprachlich – in denselben Topf, der typischerweise Abfall, Abfallkübel o.ä. heisst.
Weiter finden wir in unserem Korpus das Wort Abfall mit den Verben werfen, wegwerfen und schmeissen gekoppelt. Wir lesen zum Beispiel:
(1) Es nützt nichts, (....) den Käse am Tag nach dem Ablaufdatum in den Abfall zu werfen, obschon er noch geniessbar wäre. (NZZ, 21.5.19),
(2) Lebensmittel werden in den Abfall geworfen. (TA, 25.5.19).
(3) Wer eine verfaulte Birne in den Abfall schmeisst, hat vielleicht ein schlechtes Gewissen (NZZ, 9.8.19)
(4) Mit 39 Prozent schmeissen die Schweizer Haushalte den grössten Anteil an essbaren Lebensmitteln weg. (TA 23.1.20)
Die Formulierungen folgen einem einfachen Skript, in welchem wie in einem Theaterstück die folgenden Rollen vergeben werden. Da ist erstens jemand, der handelt (ein Mensch), zweitens ein Gegenstand (ein Lebensmittel), worauf sich die Handlung bezieht, drittens die Handlung (werfen, schmeissen) und viertens der Zielpunkt der Handlung (der Abfalleimer). Auffällig ist, dass meist einige dieser Positionen unbesetzt bleiben. Passiv- und Infinitivkonstruktionen (1) und (2) blenden die handelnden Menschen aus und verwandeln das Wegwerfen in einen anonymen Vorgang. Auch in den Schweizer Haushalten (4) sind Menschen sehr pauschal gefasst.
In den Wegwerf-Formulierungen wiederholt sich, was wir zum Ausdruck Food Waste schon beobachtet haben: Die Formulierungen zu den Lebensmittelverschwendungen sind meist akteurabgewandt, d.h. sie sind blind auf dem Auge, welches die VerschwenderInnen wahrnehmen könnte. Zu den Stärken der Wegwerf-Formulierungen gehört umgekehrt, dass sie, anders als etwa Food Waste, zumindest die sprachliche Möglichkeit eröffnen, die Akteure und Akteurinnen zu benennen. Wie leicht liesse sich doch sagen: Julia und Peter werfen viele Lebensmittel weg. Der Frame des Verbes wegwerfen lässt diese Sichtweise zu und hält sie als Denk- und Sprechmöglichkeit bereit. Wollte man die Akteure genauer in den Blick nehmen, müsste man diese Möglichkeit bloss nutzen.
Zum Frame des Verbs wegwerfen kommt eine allgemeine Abwertung des Weggeworfenen hinzu. Nicht ohne Grund gibt es die Rede von der wegwerfenden Geste. Sie zeigt an, dass der Gebrauch des Verbs wegwerfen den weggeworfenen Gegenstand abwertet. Die Vorsilbe weg- drückt aus, dass etwas von der handelnden Person räumlich entfernt wird, das nicht gewünscht wird bzw. das nicht existieren soll (Bedeutungswörterduden 2002, S. 1034). Wer käme auf die Idee zu sagen, er oder sie lege etwas in den Abfall oder platziere etwas im Abfall? Gedanklich funktionieren die Ausdrücke wegwerfen und in den Abfall werfen wie die Löschtaste auf dem PC. Man entfernt eine Sache aus dem sinnlichen Wahrnehmungsraum und löscht sie damit aus dem Alltagsbewusstsein. Wer etwas wegwirft, wird nur schwer auf die Idee kommen, dass dieser Gegenstand danach etwa wiederverwertet werden könnte, da er den Bezug zum einst gewünschten Nahrungsmittel abgebrochen hat.
im Abfall landen: Am deutlichsten zeigt sich das sprachliche Verbergen der Abfalltäter und Abfalltäterinnen, wenn man Lebensmittel im Abfall landen lässt. In 40 von 60 Fällen (!), in denen das Wort Abfall in unserem Korpus vorkommt, verbindet es sich mit dem Verb landen. Konkret heisst dies: Lebensmittel werden nicht weggeworfen oder entsorgt, sondern sie landen im Abfall. Beispiele:
Jedes vierte Brot landet im Abfall. (NZZ, 3.4.19)
Jährlich landen weltweit 1,6 Milliarden Tonnen Lebensmittel im Wert von 1,2 Billionen Franken im Abfall. (TA, 20.9.1)
Es landen immer noch viele Lebensmittel im Abfall der Hotelküchen. (TA, 23.1.20)
Diese Sätze folgen demselben Skript wie der Satz «Das Auto landet im Strassengraben» (DWDS). Im einen Satz bewegt sich ein Auto in den Graben, im anderen ein Brot in den Müll. Beides sind Widerfahrnisse, die dem Auto und dem Brot zustossen. Ausgeblendet bleiben in beiden Formulierungen die Menschen, welche diese Vorgänge auslösen (jene, die das Auto in Gang setzen bzw. das Brot wegwerfen). Einmal mehr werden die VerschwendungstäterInnen unsichtbar. Als Verantwortliche kommen die Menschen im Abfalldiskurs offensichtlich kaum vor. Zudem: Landen ist ein resultative Verb. Es drückt das Ergebnis eines Vorgangs aus. Die resultative Bedeutung lässt auch nicht an Weiterverwertung, Kreislaufwirtschaft denken (davon abgesehen, dass es schmerzt zu erkennen, dass etwas im Abfall landet, was kein Abfall wäre).
Eine weitaus aktivere Rolle in Bezug auf Abfall nehmen in jüngster Zeit die sog. MülltaucherInnen (aus engl. waste divers oder dumpster divers) ein. Diese Menschen ‘tauchen’ in Müllcontainer, meist im Hinterhof von Grossverteilern, ein und fischen dort noch Essbares heraus. Sie sind sozusagen die Ährenleserinnen des 21. Jahrhunderts. Auch das Wort containern ist für dieses Tauchen bekannt. Die Metapher des Tauchens suggeriert, dass die Lebensmittelabfälle ein tiefes Gewässer, eine undifferenzierte Masse, bilden, in welche man eintauchen kann. Anders als jene, die wegwerfen, besitzen Mülltaucher einen Blick, welcher Weggeworfenes fein unterscheidet (redifferenziert). Was von den Grossverteilern pauschal als Abfall entsorgt wurde, wird von ihnen wieder in ‘essbar’ und ‘nicht essbar’ unterschieden.
Der Soziologe Reiner Keller hat darauf hingewiesen, dass der Müll in den Konsumgesellschaften indirekt auch das Wertvolle definiert (Keller 1998). Man isst das Fleisch und wirft die Knochen in den Abfall. Diese abwertende Grundprägung macht Abfall auch zu einem deontischen, einem Nicht-Sollens- und Nicht-Wollensausdruck, der eine versteckte Handlungsanleitung enthält. Was im deutschen Sprachraum als Unkraut oder Ungeziefer gilt, wird bekämpft. Was als Abfall gilt, wird entsorgt, beseitigt, aus dem Wahrnehmungsfeld gerückt. Wie viele andere Begriffe, mit denen wir heute leben, ist die Bezeichnung Abfall ein historisch gewachsenes Konstrukt (Arnold 2021, Farzin 201, Albrecht 2001). Was als Abfall gilt, wird als unbrauchbar und nutzlos, oft unhygienisch entfernt. Das Gericht auf dem Teller wird zum Abfall, sobald der Gast es verschmäht hat, das Joghurt am Tag nach seinem Ablaufdatum. Abfall ist die Folge eines Entwertungsvorgangs, der nicht zwingend mit der materiellen Beschaffenheit eines Gegenstandes zusammenhängt. Er gehört als fester Bestandteil zur wirtschaftlichen Produktion, welche durch Konsum und den daraus folgenden Abfall komplettiert wird. Keller stellt zur historischen Entstehung dieses Vorgangs fest:
«In der (armen) ländlich-bäuerlichen Ökonomie der vergangenen Jahrhunderte entstehen kaum nichtverwertbare Reste. Die Abfälle sind in einen tradierten Weiterverwertungszyklus – etwa als Mist, Dünger – eingebunden. Demgegenüber beruht die reiche, städtisch-industriekapitalistische Konsumgesellschaft auf den Prinzipien des beständigen Verbrauchs, der Entwertung und Ersetzung der Güter. Das damit entstehende ‚Unbrauchbare‘ muss beseitigt werden. Speicher, Keller, Stall, Schuppen, Speisekammer – klassische Orte der Aufbewahrung mit unterschiedlichen Graden der Objektdistanzierung verschwinden mit dem Reichtumszuwachs. Die Kultur des Aufbewahrens wird entwertet, weil die unerschöpfliche Verfügbarkeit des Ersatzes an ihre Stelle tritt.« (Keller 1998, S. 23)
Albrecht, Helmuth (2001). “Zur Geschichte Der Begriffe» Wiederverwertung, Abfall, Recycling und Nachhaltigkeit «—Eine Einleitung in Das Tagungsthema.” FERRUM—Nachrichten aus Der Eisenbibliothek 73:4–11.
Arnold, Nadine Hrsg. (2021). Wenn Food Waste sichtbar wird: Zur Organisation und Bewertung von Lebensmittelabfällen. Bielefeld: Transcript.
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Blühdorn, Hararik (1991). ENTSORGUNGSPARK SPRACHE. Von der linguistischen Beseitigung des Mülls. In Liedtke, Frank/Wengeler, Martin/Böke, Karin (Hrsg.): Begriffe besetzen. Strategien des Sprachgebrauchs in der Politik. - Opladen: Westdeutscher Verlag, 1991. S. 338-354.
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Wir danken Karin Spori und Stefan Bosshardt (foodwaste.ch), Dr. Claudio Beretta (foodwaste.ch und Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften), Saskia Sanders (BAFU) und Dr. Nadine Arnold (Kultur- und sozialwissenschaftliche Fakultät, Uni Luzern) für ihre Mitarbeit in einem Workshop am 25. Mai 2021. Ihre breiten Kenntnisse der Materie und ihre Ideen haben den Text sehr bereichert.