Fleisch ist heute in aller Leute Mund - wörtlich und im übertragenen Sinn. Die Überversorgung und der Überkonsum von Fleisch haben vielfältige Gründe. Bevor wir auf die sprachlichen Gründe eingehen, schauen wir uns einige historische Aspekte und einige Zahlen und Fakten zum Thema an.
Der Pro-Kopf-Fleischkonsum in der Schweiz und in Deutschland ist heute (2020) viermal so hoch wie Mitte des 19. Jahrhunderts und doppelt so hoch wie vor hundert Jahren (Kriener 2013, S. 20). Für viele Menschen ist der einstige Sonntagsbraten heute alltäglich und selbstverständlich geworden. Laut Proviande essen Schweizerinnen und Schweizer pro Jahr ca. 51kg Fleisch, mit leicht sinkender Tendenz. [1] https://www.swissveg.ch/node/1487 (abgerufen am 20.05.2020) Diese Zahlen schliessen ein, was auf dem Tisch landet. Ausgeschlossen sind Blut und Knochen, ebenfalls Fisch und Einkaufstourismus. In Deutschland und Österreich sind die Zahlen leicht höher (Rabenstein 2019, S. 421, Hörning 2019, S. 16), belaufen sich auf etwas mehr als 1kg Fleisch pro Woche und Person. Weltweit werden derzeit jährlich 330 Millionen Tonnen Fleisch verzehrt. Und die Zahl wächst von Jahr zu Jahr. Für den Zeitraum zwischen 2000 und 2050 rechnet man damit, dass sich die Mengen verdoppeln werden (Precht 2016. S. 373). In den asiatischen Schwellen- und Entwicklungsländern macht sich ein grosser Hunger nach rotem Fleisch (Muskelfleisch von Rind, Schwein, Schaf) und prestigeträchtigen westlichen Ernährungsstilen breit (Trummer 2015, S. 70).
Fleischskandale[2] Tiertransporte 2017, Pferdefleischskandal in Europa 2013, Handelsstreit um Hormonfleisch 2012 und 2013, Gammmelfleischskandale 2005 und 2006, Corona-Fälle im Schlachtbetrieb von Tönnies 2020, Diskussionen um die Massentierhaltung und das Tierleid ebenso wie ökologische und gesundheitliche Aspekte haben Fleisch aber auch in das Licht der Medien, der Politik und Wissenschaft gerückt. Fleischkritische Haltungen gewinnen an Gewicht. Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2020 ernähren sich in der Schweiz 6,5 Prozent der Bevölkerung vegetarisch, 1 Prozent vegan und weitere 11 Prozent verzichten zumindest häufig auf Fleisch (‘FlexitarierInnen’).[3] https://www.swissveg.ch/veg-umfrage (abgerufen am 20.12.2020) Im September 2019 wurde in der Schweiz eine Volksinitiative gegen die Massentierhaltung eingereicht. Zahlreiche Organisationen wie z. B. Swissveg, Sentience Politics und Tier im Recht setzen sich heute für fleischloses Essen und die Rechte der Tiere ein.
Grosser Fleischverzehr bedeutet auch grosse Fleisch’produktion’. In Deutschland werden heute pro Jahr 5.3 Millionen Tonnen Schweinefleisch ‚produziert‘. Unter den heute üblichen Mastbedingungen schafft ein sog. Industrieschwein ca. 750 Gramm Gewichtszunahme pro Tag. Nach etwa einem halben Jahr haben die Mastschweine ihr sog. Schlachtgewicht von ca. 110 Kilogramm erreicht (Klopp/Gottwald 2019, S. 82). Grosse Schlachtbetriebe töten bis zu 1500 Tiere pro Stunde, so dass dem Personal nach der Elektrobetäubung im Schnitt weniger als zwei Sekunden Zeit bleibt, um ein Schwein (zur Entblutung) zu stechen (Klopp/Gottwald 2019, S. 90).
Die Nutztierhaltung durchläuft seit einigen Jahrzehnten grundlegende Veränderungen. Wo früher Mischbetriebe die Fleischbranche prägten, haben sich industrialisierte Schlacht- und Fleischverarbeitungsbetriebe etabliert, welche ihre Tiere aus ebenfalls industriell organisierten Tierhaltungsunternehmen beziehen. Auf diese Weise werden Tiere sowohl für den heimischen als auch den internationalen Markt in ‚Fleisch’ verwandelt und vermarktet (Münchhausen, Fink-Kessler 2019, S. 76). Wenn sich im weltumspannenden Markt nur noch Massentierhaltung wirklich lohnt, braucht es keine traditionellen Mischbetriebe mehr, sondern nur noch Tierfabriken. In der Schweiz teilen sich die beiden Grosschlachtereien Micarna und Bell heute rund 50 Prozent des Marktes (https://www.swissveg.ch/schlachtzahlenCH. abgerufen 20.05. 2020). Im Jahr 2019 lag der Anteil des Biofleisches in der Schweiz dagegen lediglich bei 5.9 %.[4] https://www.bioaktuell.ch/markt/biomarkt/markt-biofleisch-allgemein.html (abgerufen am 11.6.2020)
Heute werden in der Schweiz und in Deutschland rund 70 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche für Futtermittel für Rinder, Schweine und andere Nutztiere verwendet. Nur 20 % der Fläche sind direkt für Nahrungsmittel für den menschlichen Verzehr bestimmt.[5] Umweltbundesamt (2017): Umweltschutz in der Landwirtschaft. http://www.umweltbundesamt.de/stes/default/files/medien/479/publikationen/170405_ubba_fb_landwirsch aftumwelt_bf.pdf https://www.swissveg.ch/land Europa importiert jährlich Futtermittel, das auf vielen Tausend Hektaren, primär in Südamerika, produziert wird. Die sog. Fleisch’produktion’ hat sich also von den europäischen Böden abgelöst. Zudem ist sie hinsichtlich ihrer Energienutzung ineffizient. Tiere setzen nur einen Bruchteil der Kalorien, die sie fressen, in Fleisch um. Für eine Kalorie Muskelfleisch muss ein Rind etwa zehn pflanzliche Kalorien fressen, ein Schwein fünf, ein Huhn drei (Schneider 2017, S. 68). Angesichts der ökologischen Auswirkungen des Fleischkonsums in den modernen Industriestaaten ist der Verzehr von Fleisch daher eine verschwenderische Form der Ernährung.
Mit seinem Landanspruch, aber auch durch Ausstoss von Methan und Lachgas, trägt der Fleischkonsum in der westlichen Ernährungsweise wesentlich zur Schädigung des Weltklimas bei. Auch Böden, Biodiversität und Wasserressourcen leiden unter der intensiven Tierhaltung (Fleischatlas 2016, FAO 2013). Die konservativ rechnende und Fleischverzehr fördernde «Food and Agriculture Organization» (FAO) veröffentlichte 2006 einen Bericht, wonach die Herstellung tierischer Nahrungsmittel mit 18 % weltweit mehr Treibhausgase als das gesamte Transportwesen erzeugt.[6] www.swissveg.ch/thg (abgerufen am 20.05. 2020) Massentier’produktion’ treibt jedoch nicht nur den Klimawandel voran. Sie verschärft auch den Welthunger, die Wasserknappheit und den Verlust der Artenvielfalt.
Zu viel Fleischkonsum ist ungesund. Laut dem Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) konsumieren die SchweizerInnen das Dreifache der empfohlenen Menge an Fleisch. Menschen, die regelmässig rotes Fleisch essen, erkranken häufiger an Diabetes, Kreislaufstörungen und Darmkrebs. Laut Swissveg tragen drei von vier Schweizer Hühner antibiotikaresistente Keime.[7] swissveg.ch/huhngesund (abgerufen am 12.12.2020) Rheumapatienten wird vom Konsum von Schweinefleisch abgeraten, weil eine bestimmte Fettsäure die Schmerzen in den Gelenken verstärken kann.[8] https://www.planet-wissen.de/gesellschaft/lebensmittel/fleisch/pwiemachtfleischkrank100.html https://www.iarc.fr/wp-content/uploads/2018/07/pr240_E.pdf (abgerufen am 1.08.2020) Insbesondere die Verarbeitung und Zubereitung von Fleisch kann ein krebserregendes Potenzial entfalten. Beim roten Fleisch gilt dieser Zusammenhang mittlerweile als gesichert. Für weisses Fleisch (Geflügel, Fisch) gilt dieser Makel nicht. Ein Vergleich: Laut einem Statement der WHO sind in England 86 Prozent der Lungenkrebse (und 19 Prozent aller Krebse) auf das Rauchen und 21 Prozent der Dickdarmkrebse (und 3 Prozent aller Krebse) auf den Fleischkonsum zurückzuführen. Ein anderer Vergleich: Mit einem kompletten Rauchstopp liessen sich auf der Insel jährlich über 64 000 Krebsfälle verhindern, mit einem Fleischverzicht knapp 9000 (Niederer 2015).[9] https://www.nzz.ch/meinung/kommentare/keine-scheuklappen-beim-essen-ld.2770
Parallel zur industriellen Erzeugung von Fleisch - und teilweise durch diese provoziert - wächst in Teilen der Wohlstandsgesellschaften ein ethisches Bewusstsein für das Tierleid und die „industrielle Tierquälerei“ (Precht 2016, S. 372), die mit der Massentierhaltung einhergeht. Aus dieser Sicht wird u. a. Speziesismus angeklagt. Damit ist eine Haltung gemeint, bei der die Interessen von Mitgliedern einer anderen Spezies jenen der eigenen Spezies untergeordnet werden. Konkret heisst dies, dass Tiere als dem Menschen untergeordnet betrachtet und diskriminiert werden (Ryder 2010). Speziesistisch ist unter anderem die Annahme, dass Tiere kein Recht auf Leben, keine oder eine geringere Leidensfähigkeit als Menschen haben und dass man sie folglich einsperren, mästen, töten oder für Tierversuche nutzen kann. Der australische Tierethiker Peter Singer fordert ein Prinzip der Gleichheit zwischen Menschen und Tieren, das die Interessen der unterschiedlichen Lebewesen ins Zentrum rückt (equal consideration of interests) (Singer 1995, S. 30). Wie stark eine vergegenständlichende Sicht auf Tiere in unserem Alltag verankert ist, zeigt sich zum Beispiel in Radiodurchsagen wie der folgenden vom 1. Juni 2020 auf Radio DRS: „Vorsicht: Auf der Autobahn XY besteht Gefahr durch Rehe auf der Fahrbahn.“ (Man ersetze als Gedankenexperiment „Rehe“ durch „Gegenstände“, „spielende Katzen“ oder „spielende Kinder“. Dass auf der Autobahn auch eine Gefahr für die Rehe besteht, wird ausgeblendet.) Eine weltweite Bewegung von Tierrechtlern und Aktivistinnen verlangt heute, dass der Speziesismus überwunden werde und die vorhandenen Gerechtigkeitsprinzipien auch auf Tiere ausgeweitet werden (Adams 1990, S. 23). Eine Initiative von Sentience Politics von 2019 in Basel-Stadt verlangt Grundreche für Primaten.
In der Schweiz wird pro Jahr 1 Million Tonnen Kraftfutter für Masttiere eingeführt. Dieses nicht standortangepasste Futter (z. B. Soja aus Brasilien) macht ca. 60 % der Futtermittelmenge aus (Marti 2020). Solche aus der Landschaft abgelöste Tierhaltung gleicht stark jener, die bei Tomaten schon lange als ‚hors-sol‘-Produktion üblich ist (hors = frz. ausserhalb, sol = frz. Boden). Gemeint sind Tomaten, die aus Nährlösungen in geheizten Gewächshäusern ohne Verwendung von Erde, also sozusagen erdunabhängig wachsen. Bei COOP werden heute 95 % der konventionellen Schweizer Tomaten auf diese Weise erzeugt (vgl. www.umwelt-schweiz.ch, abgerufen am 20.05.2020).
Werbung preist Fleisch zu Ramsch- und Schnäppchenpreisen an. Tiefe Preise werten ein Gut ab. Während 1950 in Deutschland ein Kilogramm Schweinefleisch 1,6 Prozent des monatlichen Nettoverdienstes kostete, waren es 2002 nur noch 0,28 Prozent.[1] www.wikiwand.com/de/Fleischkonsum_in_Deutschland, (abgerufen am 20.05.2020) Diese relative Abwertung des Fleisches wird unterstützt durch den Import von Fleischwaren aus der ganzen Welt. Er fördert einerseits den hohen Fleischabsatz und damit den ungeheuren Fleischkonsum in den Wohlstandsgesellschaften. Andererseits setzen tiefe Preise auch die industrielle Tierhaltung und einen globalen Markt voraus.
Fleischessen hat in den meisten Kulturen Tradition. „Wenn wir essen“ - kann man mit Arnold Hartmann sagen - „dann sitzen unsere Ahnen mit am Tisch“ (Hartmann 2006, S. 148). Das Essen von Fleisch ist stark kulturell geprägt. Hindus essen kein Rind, Moslems und Juden kein Schwein. Die kulturelle Hochwertung von Fleisch erwächst traditionell aus seiner Knappheit, mithin auch aus der schwierigen Haltbarkeit von Fleisch (z. B. durch Salzen, Räuchern, Pökeln). In ländlichen Haushalten Europas war Fleisch bis zur Mitte des 20. Jahrhundert Sonntagsspeise und Mittelpunkt weniger Feste des Jahres wie etwa, Weihnachten, Ostern und Hochzeiten. Seit dem Mittelalter gilt Fleisch auch als Statussymbol der herrschenden Klasse (Trummer 2015, S. 67). Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wird Fleischkonsum allmählich demokratisiert, doch Fleisch steht bis heute in der Ernährungshierarchie weit oben. Die Soziologin Monika Setzwein erkennt im Fleisch ein Mittel, um Herrschaftsansprüche zu markieren, sei dies die Herrschaft des Menschen über die Natur, die Herrschaft der Reichen über die Armen oder die des männlichen Geschlechts über das weibliche (Setzwein 2004, S. 130f). Gibt es zum Beispiel Werbung, in der nicht ein Mann am Grill steht? Von der kulturellen Wertzuschreibung als ‚Herrenspeise‘ profitiert das Fleisch noch heute, trotz Dumpingpreisen und Allverfügbarkeit. Kulturelle Konventionen zeigen, dass Fleischkonsum viel kulturelle Symbolik mit sich führt. Fleisch ist weit mehr als ein umwelt- und tierschädigendes Nahrungsmittel, es ist tief im gesellschaftlichen und familiären Leben verankert. Dazu gehört der Weihnachtsbraten ebenso wie der sommerliche Grillabend und die «Stadionwurst als kulinarische Praxis‘» beim Fussballspiel (Bowry 2019).
Proviande, die Werbeplattform der Schweizer Fleischwirtschaft, profitiert von 6,1 Millionen Franken Bundessubventionen für die sog. Absatzförderung, d. h. für Fleischwerbung.[2] Marti, Kurt 2020 in: https://www.infosperber.ch/Artikel/Wirtschaft/Bundes-Subventionen-fur-Proviande-im-Gegenwind (abgerufen 20.05.2020). Auf seiner Website grill.coop.ch wirbt COOP für den Fleischverzehr, indem er ihn mit den Themen Genuss, Wissen und Spass koppelt. Eine reiche Erlebniswelt wird aufgebaut, mit der sich auch Rezepte und praktische Tipps zu Garzeiten und Ideen für die Tischdekoration verbinden. Auch ein Wurst-Ranking zu den meistverkauften Würsten oder eine Grill-Typologie, die vom angepassten Kugelgriller bis zum Einweggriller reicht, werden dargestellt. Zaghaft tut sich daneben neu aber auch die Option auf, vegan und vegetarisch zu grillen.
Laut einer Studie von Poore/Nemecek (2018) könnte der weltweite Verzicht auf tierische Lebensmittel 6,6 Milliarden Tonnen an klimaschädlichen Gasen einsparen, zudem würden 3,2 Milliarden Hektar Land frei, die Überdüngung, Bodenversauerung und Wassernutzung nähmen ebenfalls drastisch ab. Doch die Forderung ist so drastisch wie unrealistisch. Die Autoren schlagen deshalb vor, dass man auf die Hälfte des derzeitigen Konsums tierischer Produkte verzichtet und dabei die besonders umweltschädlichen Produktionsverfahren für Fleisch, Fisch und Milchprodukte einstellt. Ihre Analyse zeigt, dass ein und dasselbe Lebensmittel auf der Welt unter teils sehr unterschiedlichen Bedingungen hergestellt wird. So entstehen bei der schädlichsten Rindfleischerzeugung pro hundert Gramm essbarem Protein 105 Kilogramm CO2-Äquivalente und damit 12 Mal mehr als bei der für die Umwelt bestmöglichen Produktionsart. Die unterschiedlichen Arten der Landnutzung unterscheiden sich gar um den Faktor 50 voneinander. Die Autoren schlagen vor, Fleisch nur noch von Milchkühen und ihren Kälbern zu gewinnen, also die Spezialisierung in Milchkühe und Schlachtrinder aufzuheben. In einem Interview mit der NZZ empfehlen die Autoren, die unterschiedlichen Produktionsbedingungen genau zu deklarieren sowie Labels, Steuererleichterungen und Lenkungsabgaben einzuführen, um so das Produktions- und Konsumverhalten zu lenken (Lahrtz 2018).
Wir nehmen im Folgenden insofern eine fleischkritische Position ein, als wir uns von bestimmten kulturell geprägten Haltungen gegenüber dem Verzehr von Fleisch distanzieren. Dazu gehören auch Positionen, die Fleischverzehr als ‚natürlich‘ oder als im Wesen des Menschen gegeben annehmen. Wir stellen uns auf den Standpunkt, dass Menschen - anders als Löwen, die Antilopen reissen - ein gewisses Mass an ethischer Freiheit besitzen. Wir setzen also seit den Australopolitecen einen menschheitsgeschichtlichen ethischen Fortschritt voraus, der typisch für eine Wohlstandsgesellschaft ist, für die Tierrechte und Vegetarismus ebenso selbstverständlich geworden sind wie die Abschaffung des Sklaventums, die Gleichberechtigung der Geschlechter und die Sozialversicherung. Die fraglose Legitimation, Fleisch zu verzehren, stammt aus einer Zeit und aus Lebenszusammenhängen, in denen das Töten von Tieren lebensnotwendig ist bzw. war. Solche Notwendigkeiten, Tiere zum Zweck der Ernährung zu töten, sind heute auf dem Erdball insgesamt ziemlich rar, sie sind u.a. bei den Inuit noch gegeben (vgl. Precht 2016, S. 366). Angesichts der historisch gewachsenen Verankerung der Tierhaltung und des Fleischessens in unserer Kultur halten wir gesamtgesellschaftlich die von Poore /Nemecek (2018) formulierten Ziele gegenwärtig für erstrebenswert: Abkehr von der Massentierhaltung und -produktion, Rindfleisch nur von Milchkühen, Halbierung des weltweiten Fleischkonsums.
Dass im heutigen Umgang mit Fleisch die Sprache - genauer bestimmte Diskurse - eine gewichtige Rolle spielen, wird oft übersehen. So gibt es kaum diskurslinguistische Studien zum Thema Fleischherstellung und Fleischverzehr im deutschsprachigen Raum (vgl. Lippert /Ullrich 2019, S. 271). Wir gehen von der Annahme aus, dass ein reflektierter Umgang mit der Sprache kulturell verfestigte Normen im Umgang mit Fleisch offenlegen und einen massvollen Konsum mit Fleisch anregen kann.
Vor diesem Hintergrund lautet unsere Grundfrage verkürzt: Warum essen wir so viel Fleisch, obwohl es ökologisch so schädlich und ethisch so fragwürdig ist? Der Philosoph Richard David Precht stellt dazu fest: „Noch nie war die gesellschaftliche Kluft so gross zwischen dem, was Menschen im Umgang mit Tieren für richtig halten, und dem, was sie tatsächlich praktizieren“ (Precht 2016, S. 302). Offenbar stehen einander in den heutigen Konsumgesellschaften zwei Positionen innerhalb des Diskurses über Tiere (und über die Natur) gegenüber: einerseits die ökologische und ethische, die dem Fleischessen kritisch begegnet, und andererseits jene, die das Fleischessen als das Normale bewertet. Heute gilt es für die Mehrheit der Menschen als ‚normal,‘ täglich Fleisch zu essen. „Fleisch ist ein Stück Lebenskraft“ - dieser Slogan der deutschen Agrarwirtschaft widerspiegelt für viele einen unhinterfragten Grundkonsens.
Wir wollen wissen, wie der heutige Sprachgebrauch (im Alltag, den Medien, den Wissenschaften, der Wirtschaft, der Politik und der Bildung) das Fleischessen fördern und welche Formen des Sprachgebrauchs ihm Einhalt gebieten oder ein Masshalten entgegenhalten können. Dazu fragen wir:
Welche begrifflichen Unterscheidungen und Wertungen werden durch die Sprache (bereits für Kinder) in unsere Wahrnehmung von Tieren eingeführt und welche Auswirkungen können diese auf das menschliche Handeln gegenüber den verschiedenen Tierkategorien haben? (→ Tiere braten oder streicheln?)
Welche sprachlichen Verfahren liegen der Massentierhaltung, -schlachtung und -verarbeitung zugrunde? (→ Schweineproduktion: Ein Besuch im sprachlichen Gruselkabinett)
Wie prägen bildliche Darstellungen die menschliche Wahrnehmung und Wertung sog. Nutztiere mit? (→ Das Auge isst mit.)
Was tragen Speisekarten zum Verständnis des Fleischessens bei? (→ Tiere auf der Speisekarte)
Adams, Carol (1990). The Sexual Politics of Meat. A Feminist-Vegetarier Critical Theory. New York: Continuum.
Bowry, Jaya (2019). „Beim Fussball geht es um die Wurst“. Die Stadionwurst als kulinarische Praxis. In: Rückert-John / Kröger, Melanie (Hrsg.) S. 146-167.
Der Fleischatlas: https://www.boell.de/de/fleischatlas
Hartmann, A. (2006). Der Esser, sein Kosmos und seine Ahnen. Kulinarische Tableaus von Herkunft und Wiederkehr. In R.-E. Mohrmann (Hrsg.) Essen und Trinken in der Moderne (S. 147–158). Münster: Waxmann Verlag.
Hörning, Bernhard (2019). «Massentierhaltung» in Deutschland. Eine Annäherung. In: Rückert-John, Jana/Melanie Kröger (Hrsg.) S. 15-40.
Klopp, Nora / Franz-Theo Gottwald (2019). Tier- und konsumethische Aspekte des Umgangs mit Schweinen. In: Rückert-John et. al. (Hrsg.) 2019. S. 81-102.
Lippert, Sabine und David Ulrich (2019). Fleisch und Schule. Zur kritischen Auseinandersetzung mit der deutschen Fleischproduktion im (geographischen) Unterricht und Schulbuch. In Rückert-John/Krüger (Hrsg). S. 269- 294.
Münchhausen von, Susanne / Andrea Fink-Kessler und Anna Häring (2019). „Beim Fleisch läuft’s immer etwas anders!“ Perspektiven zum Aufbau wertebasierter Wertschöpfungsketten. In: Rückert-John / Melanie Kröger (Hrsg.) (2019). S. 41- 66.
Poore, Joseph / Nemecek, Thomas (2018) Reducing food’s environmental impacts through producers and consumers. Science: 360, Issue 6392, pp. 987-992
Precht, Richard David (2016). Tiere denken. Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen. München: Goldmann.
Rabenstein, Alexandra (2019). „Das grosse Sterben für das grosse Fressen“ - eine mediale Neuaushandlung der Bedeutung des Fleischs. In: Rückert-John et al. S. 421-445.
Rückert- John/Jana und Kröger, Melanie, Hrsg. (2019). Fleisch: Vom Wohlstandssymbol zur Gefahr für die Zukunft. Baden-Baden: Nomos.
Sauerberg, Achim und Wierzbitza, Stefan (2013). Das Tierbild der Agrarökonomie. Eine Diskursanalyse zum Mensch-Tier- Verhältnis. In: Birgit Pfau-Effinger undSonja Buschka (Hrsg.) Gesellschaft und Tiere Soziologische Analysen zu einem ambivalenten Verhältnis. Wiesbaden: Springer
Schneider, R.U. (2017). Und die Wildsau nimmt die Pille. In: NZZ Folio (309), S. 66-72.
Setzwein, M. (2004). Ernährung – Körper – Geschlecht. Zur sozialen Konstruktion von Geschlecht im kulinarischen Kontext. Wiesbaden.
Singer, Peter (1995). Animal Liberation. 2. Aufl. London: Pimlico.
Stengel, Oliver (2011). Suffizienz Die Konsumgesellschaft und er ökologischen Krise. München: ökom.
Trummer, Manuel (2015). Die kulturellen Schranken des Gewissens – Fleischkonsum zwischen Tradition, Lebensstil und Ernährungswissen. In: Hirschfelder et al. (Hrsg.), Was der Mensch essen darf. DOI 10.1007/978-3-658-01465-0_5, S. 63-79.